Schloss Großknetow

Pit HuberEigentlich dachte ich immer, Jazz sei ein ungezogenes, rebellisches Kellerkind, das das Licht scheut und sich in alten Tonnengewölben und verstaubten Lagerhallen verstecken muss. Irgendwas hat der Jazz doch ausgefressen? Muss man als Jazzhörer ein schlechtes Gewissen haben? Darf man überhaupt über seine Leidenschaft reden? Die Leute gucken jedenfalls immer leicht pikiert, wenn man „Jazz“ sagt.

Aber diesen Sommer war ich in Berlin und da ist es ganz anders. In dieser Stadt wird nämlich alles zum Spektakel, zur Lichtshow oder gleich zum Erlebnismuseum: die Mauer, die Relativitätstheorie, die Dietrich. Auch rund um die Stadt ist es bunt und fröhlich: Da fahren weiße Schifflein vom Atlantik zum Pazifik und wieder zurück, direkt über die lustigen Seen und Flüsse Brandenburgs. Da steht an jeder Flussbiegung und jeder Waldecke ein Schlösslein mit neckischen Türmchen, fein herausgeputzt, und wartet auf Micky Maus.

Ein sehr, sehr netter Mensch in Berlin lud mich diesen Sommer zu einem Schlossjazzkonzert ein. Ich dachte natürlich erst an Folterkammer, Turmverlies oder Kohlenkeller. Nein, die Jazzspektakel fänden immer im Schlosspark statt, bei schlechtem Wetter im Alten Ballsaal. Er lieh mir dann ein Sakko und eine Krawatte, ich Kellerratte kenne solche Kleidungsstücke ja nur aus der Literatur.

Gleich nach dem Mittagessen machten wir uns auf den Weg. Auf der hübschen Eintrittskarte, die er mir zusteckte, stand: „Schloss Großknetow. Das Coolinarium. Jazz im Schlosspark. VIP-Paket I. 139 €. Ohne Konzertbesuch. Die Schlösserverwaltung.“ – „Wer spielt überhaupt?“, fragte ich. Er hatte keine Ahnung. Aber er hatte noch einen zweiten Zettel:

ab 17 Uhr – Eintreffen auf dem ausgewiesenen Parkplatz
17:30 Uhr – Sektempfang in der VIP-Area
18:30 Uhr – Drei-Gänge-Menü inkl. Getränke im Erdgeschoss
20:00 Uhr – Konzert auf Plätzen der gebuchten Kategorie
21:00 Uhr – Sektempfang in der Pause (VIP-Area im Schloss)

Ich sage euch: Eine Stunde lang Sekt im Stehen ab halb sechs, das hat es in sich. Nach dem dritten Glas steigt man auf O-Saft um, nach dem zweiten Glas O-Saft gerne wieder auf Sekt. „Gibt’s noch was anderes zu trinken?“ – nein, das war auch keine gute Idee. Ich schlich etwas benommen durch die VIP-Area, über Gartenwege und Prunkterrassen. Einmal entdeckte ich wie in einer Vision zwei Kritikerkollegen und versteckte mich schnell hinter meiner Serviette. Schließlich kennt ja jeder mein Foto von der blog-thing-Seite. So konnte ich immerhin ein kleines Fachgespräch aufschnappen:

„Was heißt schon Cool? Cool war hybride und darin genuin, nämlich Pop. Das ist ja das mitunter dialektisch Ambige dessen, was wir als Cool zu diskreditieren gelernt haben.“

„Diesem diskriminierenden Begriff wächst aber gerade durch seine konträre Resignifizierung eine dekonstruktivistische Qualität zu. Cool wurde auf afrikanisch-amerikanischen Tanzböden doch bereits als gesellschaftliche Konstruktion vorgeführt, als der akademische Betrieb noch an eine vordiskursive Unschuld glaubte.“

„Eben darum verwendet Cool konservativ Kodiertes, um es progressiv zu rekontextualisieren.“

Danach fühlte ich mich noch ein wenig schwindliger. Wer am Abend auftreten sollte, wusste ich übrigens immer noch nicht, dafür lag mir jetzt die Menükarte vor. Zuerst hielt ich sie für ein Manifest moderner Lyrik: Riespilzconsommé mit cloussiertem Fencheltatar auf Thymianhonigschaum. Glacierter Rehkalbsrücken an Sauerspinatsauce mit geplisstem Graupen-Lauch-Gratin und Rohdinkelfarfalle. Granatapfelsorbet mit Rote-Bete-Sirup sowie Orangen-Lebkuchen-Trifle auf Schafsminzspiegel mit einem Hauch von Bittervanille. Darunter kam die Weinauswahl.

Ich war noch nicht zum geplissten Dingsbumsgratin vorgedrungen, als Schloss Großknetow auf nicht mehr so angenehme Weise zu schaukeln begann. Sofort hatte ich den 2001er Château Clos de Chètelon Grenache-Syrah im Verdacht. Der 2000er Moulin de Duhart Cabernet Sauvignon Merlot machte die Sache aber auch nicht besser. Irgendwie beförderte mich mein Begleiter nach dem Dessert dann doch zu meinem Gartenstuhl-Konzertplatz, mir war schon alles egal.

Einige Musiker betraten die Bühne und sagten das Stück „Au Privave“ an. Ich erinnere mich noch, wie es hinter mir echote: „Aah, O Piaf!“ Und dann, in einem Flüsterton, den man drei Reihen weit hören sollte: „Na, das kennen wir doch! Das war doch diese legendäre Loffstory, schwarze Blume von Sankt Schermäh und so weiter! Das war der, der auch mit Schilzpieh spielte“ – Pause –: „Scharli Parker!“ Dann eine Frauenstimme, schon wie im Nebel: „Ich hatte mir Charlie Parker viel jünger vorgestellt.“

Da bin ich dann wohl irgendwie weggenickt. Mein Begleiter sagt, er hätte mich auch zum Sektempfang in der Pause nicht wachkriegen können. Das Konzert soll aber sehr schön gewesen sein. Vielleicht braucht man einfach ein bisschen Übung für diese Schlossjazzkonzerte. So wie fürs Krawattenbinden.

Pit Huber

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