Der Ton ist rund

Uwe Wiedenstried (Illustration)„Schalt dein Hirn auf Empfang! Coole Typen sagen: No! Keine Drogen! – Der Genuss von Marihuana kann zu irreparablen Schädigungen des Bewusstseins führen. – Brain statt Bong! Eine gemeinsame Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Deutschen Kakophonie-Hilfe.

„Willkommen zurück, liebe Freundinnen und Freunde der Kakophonie, wir berichten immer noch live aus der Eric-Dolphy-Meisterswingerhalle, in der soeben das Endspiel zwischen den Modal Chromatics und den Harmony Hoppers abgepfiffen wurde. Sieger, und damit neuer Weltmeister für angewandte Funktionsharmonik im Jazz, ist die Zwölf der Modal Chromatics. Tony Rubato, Trainer der Chromatics, empfängt gerade den Lennie-Tristano-Award aus den Händen von Dorian Whole-Tone, dem Präsidenten der „International Organization for Cacophony (IOC)“. Jetzt streckt Rubato den goldenen Violinschlüssel hoch in die Luft der Fankurve entgegen. „…Haut den Hoppers die Obertöne raus!… Obertöne raus!… Obertöne raus!“… Sie hören es selbst: Unbeschreiblicher Jubel bei den Chromatics und ihren Fans, … „Oleeh! …Oleeh, Ohleeh, Ohleeh!“ … verständliche Enttäuschung bei den Hoppers, die sich wacker geschlagen haben. – In der Werbepause ist Ex-Nationalspieler und Ehren-Botschafter der „Brain statt Bong“-Kampagne, Guido dal Segno, zu mir ins Studio gekommen. Guido, was ist das für ein Erlebnis, da oben auf dem Siegertreppchen zu stehen? Sie selbst haben ja bereits zweimal mit Ihrer Combo den Schlüssel geholt.

Ein einmaliges Erlebnis, Herr Komping, einfach einmalig.

Eine derart dramatische Bigband-Battle hat es in der langen Geschichte der Funktionsharmonikweltmeisterschaften selten gegeben. Wie beurteilen Sie als ausgewiesener Experte für Jazzharmonik das Match, Guido?

Zunächst einmal, Gratulation an Tony und seine Zwölf, aber von einer dramatischen Begegnung kann nun wirklich keine Rede sein. Sie neigen, wie so häufig, Herr Komping, zu vorschnellen Trugschlüssen, aber die Erfahrung hat mich im Laufe der Jahre gelehrt, das ungestüme Presto der Jugend still und gelassen zu erdulden.

Einem Mann Ihres Alters, Guido, muss jedes Adagio wie ein Prestissimo erscheinen.

Scherzo beiseite, Herr Komping, unsere Zuhörer bezahlen ihre Gebühren schließlich nicht für Ihre abgestandenen Dacapo-Kalauer, sondern für meine fundierten Analysen. Dem Spiel fehlte jeglicher Drive. Die Chromatics sind als klarer Favorit in die Battle gegangen. Vom ersten bis zum letzten Beat waren sie ganz klar die Dominante des Spielgeschehens. Dass ihr Sieg dann so hauchdünn ausfiel, ist mitnichten darauf zurückzuführen, dass die Hoppers ebenbürtige Gegner waren.

Sie meinen das Verletzungspech bei den Chromatics? Zwei Alterierte konnten wegen eines akuten Arpeggios nicht zum Einsatz kommen.

So ist es, Akkordbrechungen gehören leider immer noch zum Hauptverletzungsrisiko in der Kakophonie. Kapodaster sind der einzig wirksame Schutz dagegen. Ich plädiere deshalb schon seit langem dafür, Kapodaster endlich auch in Profi-Begegnungen zuzulassen. Aber die Mühlen der IOC mahlen bekanntlich molto ritardando, wie wir Fachleute sagen. Dennoch, auch mit diesen beiden Ausfällen, muss man einfach konzertieren: Hier trafen zwei Key Areas aufeinander: Klassik und Moderne. Wenn die Hoppers nichts weiter aufzubieten haben als hier mal eine None oder noch seltener eine Tredezime als Erweiterung, noch dazu in einfallsloser Quint-/Quart-Progression, dann sind ihre Tage in der ersten Liga professioneller Kakophonie wohl bereits angezählt. Die Chromatics hingegen spielen modern, geradezu weltoffen, global, möchte ich sagen. Hinten machen sie geschickt den Laden dicht mit einer stabilen Zwei-Fünf-Eins-Verbindung aus kompakten Blockakkorden…

Was, bitte, soll daran modern sein? Das ist doch klassischer Shearing-Stil.

Lassen Sie mich doch einfach mal einen Gedanken zu Ende führen, Herr Komping. Das Neue daran ist, dass Rubato zum Beispiel eine Lokrisch-Neun auf halbverminderte Position stellt, sodass auf dem anderen Flügel die vorgezogene Drei mit überraschenden Kontra-Oktaven aus der Tiefe des Klangraumes der Time vorauspreschen kann.

Sie spielen auf die spielentscheidende Situation im dritten Chorus an?

Chapeau, Herr Komping, ein bisschen scheinen selbst Sie von Funktionsharmonik begriffen zu haben. Der regelmäßige Gedankenaustausch mit mir scheint doch etwas zu fruchten.

Regie, können wir bitte mal den Einspieler von Takt 30 bis 32 aus dem dritten Chorus bekommen? … Äh… ja, äh, ich höre gerade über den kleinen Souffleur, hähä, in meinem Ohr, die MAZ mit der Zeitlupe steht noch nicht. – Kommen wir zwischendurch zu einem anderen Thema: Die IOC hat die Combo Atonal Diminished vom Wettbewerb ausgeschlossen, weil ihr Trainer sich im Vorfeld der Meisterschaft offen als Anhänger der Bitonalität geoutet hat.

Die Disqualifikation der Atonal Diminished ist ein Skandal und ausschließlich auf die starke Machtposition der Kirchentonleitern im IOC-Vorstand zurückzuführen. Wenn die Kirchentonarten jede verminderte Quinte als „diabolus in musica“ verteufeln, ist das im Übrigen pure Heuchelei. Aus der mixolydischen Kirchentonskala mit hochalterierter Undezime lassen sich ebenfalls bitonale Akkordpärchen bilden, wie wir alle wissen. Und unter uns Klosterbrüdern: Dies geschieht auch oft genug. IOC-Präsident Whole-Tone muss hier endlich ein Machtwort sprechen. Bitonalität sollte längst zum Alltag in der professionellen Kakophonie gehören. Mein alter Harmonik-Trainer, der unvergleichliche Hennes Chorweiler, hat – als „echte Kölsche Jung“ dieses Thema natürlich „janz locker“ betrachtend – schon vor Jahrzehnten zu mir gesagt: „Guido, man muss ooch jönne könne.“

Wenn Sie das vielleicht für unsere rechtsrheinischen Zuhörer und alle Düsseldorfer ins Hochdeutsche übersetzen könnten.

Besser bi als nie!

Ich höre gerade, der Einspieler steht. – MAZ ab, bitte.

Ja, hier bestätigt sich alles, was ich eben zum Spiel der Chromatics erläutert habe. Hören Sie? Unter dem Turnaround liegt ein Clave-Rhythmus, noch dazu in ternärer Phrasierung. Tony Rubato hat schließlich in Sao Paolo studiert und ist ein Meister dieses Taktes, äh, dieser Taktik. Dadurch bekam das Spiel der Chromatics geradezu brasilianischen Zauber. Dieser lässig-eleganten Variantenheterophonie hatten die Hoppers lediglich eine hektische Kollektivimprovisation entgegenzusetzen. Schwache Tonika-Parallelen und ein paar maue Sus-Akkorde, mehr habe ich von den Hoppers heute nicht gehört; keine Blue Notes, keine Mediantik, keine Oberdreiklangstrukturen, nichts, was heute in der modernen, weltoffenen Kakophonie zum Standardrepertoire gehört. Das Spiel der Hoppers war weder Dur noch Moll, die Chromatics gingen völlig zu Recht mit einer großen Sekunde Vorsprung in die Generalpause.Nach der ersten Umkehrung nahm Trainer Rubato eine überraschende enharmonische Verwechslung bei den Chromatics vor.

So überraschend nun wieder nicht, Herr Komping. Der Trick, Dominantseptakkorde durch ihre Tritonus-Substitute zu ersetzen, ist mir schon aus meiner aktiven Zeit bekannt.

So weit kann nun wirklich kein Mensch mehr zurückdenken, Guido. – Eine Alteration, also?Sie brillieren mal wieder mit erschreckendem Halbwissen, Herr Komping. Nein, keine Alteration, sondern eine spontane Modulation in die Tritonus-Parallel-Tonart. Bei einer Alteration hätte der Bass den Grundton des ausgewechselten Septakkordes beibehalten. Vielleicht stecken Sie einfach mal Ihre Nase in ein Lehrbuch.

Ach so, ja, äh, kommen wir zur zweiten Umkehrung: Viel passierte nicht mehr.

Viel passierte nicht mehr??? – In Takt 24 musste der Unparteiische immerhin wegen erwiesener Dissonanz der Hoppers auf Locked-Hands pfeifen. Die Chromatics verwandelten den Off-Pitch mit traumhaftem Voicing, indem sie ihren Freiton unerreichbar für den Keeper der Hoppers in den höchsten Diskant platzierten. Letztendlich war dies die Fermate unter einem insgesamt enttäuschenden Gig der Hoppers. Die Chromatics sind verdientermaßen neuer Weltmeister.

Vielleicht noch ein Blick auf die Synkopentabelle: Wer wird sich Ihrer Meinung nach für den Strawinsky-Cup im nächsten Frühjahr qualifizieren? … Sie zucken mit den Schultern, Guido?

Prognosen betreffen die Zukunft und sind deshalb bekanntlich schwierig, Herr Komping. Selbst Sie dürften die alte Harmonielehre kennen: Der Ton ist rund, und jeder Standard-Chorus hat 32 Takte.

Nach dem Beat ist vor dem Beat – wie wahr, wie wahr, Guido. Aber unsere Sendezeit neigt sich dem Ende zu. Erlauben Sie mir zum Abschluss noch eine persönliche Frage.

Aber bitte, Herr Komping.

Das Feuilleton einer großen Tageszeitung schreibt über Sie, Sie verstünden es, selbst einer Frau begreiflich zu machen, wie eine Off-Beat-Falle funktioniert. Das Grimme-Institut in Marl kürte Sie unlängst zum besten Kakophonie-Kommentator des deutschen Fernsehens. – Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg beim Publikum und bei der Presse?

Nun, darauf möchte ich in aller Bescheidenheit dieselbe Antwort geben, die mein großes Vorbild, der Sport-Kommentator Günter Netzer, der Frankfurter Rundschau auf dieselbe Frage gab. Ich zitiere wortgetreu: „Es hat etwas zu tun mit der Sehnsucht der Fans nach Wahrhaftigkeit in einer Welt voller Geschwätz.“

Uwe Wiedenstried

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