Various Artists

Selected Signs III–VII

(ECM/Universal)

Various Artists – Selected Signs III–VII (Cover)Zweimal Heiner Goebbels zum Einstieg, zunächst Heiner Müllers „Mann im Fahrstuhl in Erwartung eines Auftrags“ – „fünf Minuten vor der Zeit ist die wahre Pünktlichkeit“ –, dann Brecht/Eislers Vorschläge für „formale Veränderungen am Material“, darauf mit repetitiv tiefer Bierbichlerstimme die immer gleiche Spirale: Besinnung, Überlegung, Depression, Aufschwung. Im Fortgang der Ereignisse Steve Reich, Arvo Pärt, Kurtág, Bach, Mansurjan, Haydn, Kantscheli, Schostakowitsch, Sylwestrow … Zwei CDs lang kein Jazz, nirgends. Dann die melodienseligen Breitwandelegien der Griechin Eleni Karaindrou, dann Garbarek, Jon Balke und immer so fort mit wundervoller, altbekannter, doch erst durch das Gräfelfinger Label ins Bewusstsein gehobener Musik, die in dieser Sechsfachbox von Manfred Eicher und Steve Lake neu zusammengestellt wurde für die Ausstellung „ECM – eine kulturelle Archäologie“ im Münchner Haus der Kunst im Winter 2012/13. Wie Signalworte für die Arbeit Eichers fräsen sich diese „fünf Minuten vor der Zeit“ und „formale Veränderungen am Material“ in den Kopf. Was ist das, was hier in siebenstündiger Opulenz und schlicht-schöner Verpackung die Labelaktivitäten doch immer noch nur andeuten kann? Ein Sammelsurium? Ein simpler Sampler mit der Tendenz zum Größenwahn? Mitnichten! Eher eine vorsichtige, klug durchdachte Bilanz und ein Hörparcours in der Schatzkiste. Vor allem aber eine Verführung, sich Zeit zu nehmen, auf dass einem welche geschenkt werde. Das mag ausstellungsbedingt zweckgebunden sein, weist aber weit darüber hinaus – auch über die pure Musik. Es gibt diese transkulturellen Kreuz- und Querverbindungen über die Genres und Weltregionen, die sich einem Gesamtkunstwerk nähern. Film, Foto, Grafik, Literatur und Musik gehen eine Liaison ein, die Kontinente umgreift – niemals aufgedreht eifernd, vielmehr durchdacht, kontemplativ zumeist, in sich ruhend und daraus Faszination und Kraft schöpfend. Beim Eintauchen betritt man ein eigenes Universum. Nur ist das nichts zum Nebenbeihören. Mag sein, dass Eicher seine „Edition Of Contemporary Music“ am Ende der 1960er als Jazzverlag gründete. Wundervolle Preziosen der frühen Jahre deuten das auf der letzten der CDs an: Jimmy Giuffres „Jesus Maria“, „Time Will Tell“ mit Paul Bley, Barre Phillips und Evan Parker in Balladenversenkung, Wadada Leo Smith‘ „Kulture Jazz“ oder Ornette Colemans „Lonely Woman“ im Allstarquartett Old and New Dreams. Auch das ist hier dokumentiert, weil es diese Musik ausmacht: das Traumverlorene, Sehnsuchtsvolle, die Transzendenz Umkreisende. Auf vielen Feldern hat ECM Maßstäbe gesetzt. Eine breite Strecke ist Andrej Dergatschews Musik zum Film „The Return“ von Andrei Swjaginzew gewidmet, wie überhaupt neuer Musik aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion viel Raum gegeben wird, weil Eicher hier in seinen „New Series“ Pionierarbeit leistete und leistet. Nils Petter Molvær, Eivind Aarset, Christian Wallumrød oder Tord Gustavsen stehen für die immer noch neue Musik Skandinaviens. Und, und, und. Dieser Anthologie darf man sich nicht geschmäcklerisch nähern. Sie ist kein „Best-of“, sondern eine Einladung, durch musikalische Räume zu wandeln, hier zu verharren, dort verwundert zu sein und intuitiv zu spüren, wie in diesem Kosmos eins mit dem andern zu tun hat.

Text
Ulrich Steinmetzger
, Jazz thing 100

Veröffentlicht am unter Reviews

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