75: Keith Jarrett

Keith JarrettKeith JarrettEs war ein denkwürdiges Klavier-Solokonzert. Nicht, weil der Interpret ganz besonders fantasievoll, sensibel oder virtuos gespielt hätte. Ganz im Gegenteil. Denn eigentlich waren die Umstände am 24. Januar 1975 so widrig, dass dieser Solo-Auftritt mit Keith Jarrett in der Kölner Oper noch kurz vor Konzertbeginn abgesagt werden sollte. Übermüdet von der langen Anreise aus der Schweiz mit dem ECM-Produzenten Manfred Eicher an seiner Seite traf Jarrett an diesem Wintertag in Köln ein. Statt des zugesagten Bösendorfer-Instruments wurde ein Stutzflügel, der normalerweise für Proben verwendet wurde, auf die Bühne geschoben. Der war eigentlich unspielbar: verstimmt, einige Tasten klemmten ebenso wie die Fußpedale.

Aber vielleicht waren es genau diese Umstände, die aus diesem Konzert in Köln eine Sternstunde mit dem Improvisationskünstler Jarrett werden ließen. Der Pianist musste sich noch mehr als sonst auf sich selbst fokussieren, außerdem umspielte er die klemmenden Tasten und improvisierte motivisch und ostinatohaft vor allem in den Mitten und Bässen des Instruments; das Thema des ersten Stücks war übrigens eine melodische Paraphrase des Pausengongs der Kölner Oper. Der am 30. November 1975 auf ECM Records als Doppel-LP erschienene Livemitschnitt dieses Klaviersolo-Konzerts wurde unerwartet zum Bestseller „The Köln Concert“ – für Eichers damals noch junges Label ebenso wie für Jarrett auch.

Die 1970er-Jahre sind aber noch aus einem anderen Grund bemerkenswert in der Karriere des Jazzpianisten. Schon damals war Jarrett international anerkannt und hatte sich unter anderem im Quartett des Saxofonisten Charles Lloyd Mitte der 1960er und kurz später in der Band um den Trompeter Miles Davis einen herausragenden Ruf als Improvisator erspielt. Mitte der 1970er stand er dann zwei identisch besetzten Quartetten vor, die aber unterschiedlicher nicht klingen konnten: einem „amerikanischen“ mit Dewey Redman (Tenorsaxofon), Charlie Haden (Bass) und Paul Motian (Drums) und einem „europäischen“ mit Jan Garbarek (Tenorsaxofon), Palle Danielsson (Bass) und Jon Christensen (Drums). Spielte er mit seinen Landsleuten eine fast urtypisch amerikanisch zu nennende Jazzmusik, die mit ihren kurzen Riffs und prägnanten Grooves erdenschwer im Boden verankert zu sein schien, so breitete er mit den drei Skandinaviern ein gleichermaßen engmaschig wie lose geknüpftes Tableau aus singbaren Melodien und einer tonal eigenwilligen Harmonik aus, das eher in der Tradition der Kunstmusik und Folklore Europas verwurzelt war. Die LPs „Fort Yawuh“ (Impulse!/Universal) 1973 und „Belonging“ (ECM/Universal) 1974 sind Paradebeispiele für die diametral entgegengesetzten Klangentwürfe dieser zwei Jarrett-Quartette.

Ein anderer Punkt ist in Jarretts Kariere auch noch bemerkenswert. Egal, ob der Pianist mit Gary Peacock (Bass) und Jack DeJohnette (Drums) ins Studio ging, ob er „The Köln Concert“ noch viele weitere Klaviersolo-Aufnahmen folgen ließ oder Werke barocker, klassischer oder Neuer Musik (beispielsweise die „Goldberg-Variationen“ Johann Sebastian Bachs oder die „24 Präludien und Fugen“ Dimitri Schostakowitschs) aufnahm: Für seine Veröffentlichungen auf ECM schien Jarrett eine „Carte blanche“ zu haben und aus der anfänglichen Partnerschaft zwischen Produzent und Künstler ist eine tiefgründige Freundschaft zwischen Eicher und Jarrett geworden. Übrigens ist eine seiner berührendsten Klaviersolo-Aufnahmen Ende der 1990er-Jahre während einer schweren gesundheitlichen Krise des Pianisten entstanden: „The Melody At Night, With You“, 1999 erschienen.

Jarrett ist als Pianist sicherlich einer der empfindsamsten Improvisationskünstler in der heutigen Zeit – aber auch einer der empfindlichsten, nimmt man seine Publikumsbeschimpfungen zum Maßstab, für die er seit langem schon berühmt und berüchtigt ist. Eigentlich mag der Pianist weder Jahrestage noch runde Jubiläen, jedenfalls spielen sie für ihn keine Rolle, wie er immer wieder betont. Doch zu seinem 75. Geburtstag am 8. Mai muss er sich damit abfinden, dass man dem (so schwierigen?) Menschen Keith Jarrett gratuliert und ihn als einmaligen Künstler würdigt. Text Martin Laurentius

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ECM Records

Text
Martin Laurentius
Foto
Woong Chui An

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