Liebe in den Zeiten von Covid-19: Seth Rosner von Pi Recordings

[12.5.2020]

Berlin (Stadtplan)

Das Label Pi Recordings gehört seit knapp 20 Jahren zu den produktivsten Plattformen der amerikanischen Jazz-Avantgarde. Einst für Henry Threadgill gegründet, ist es längst Heimat für Künstler und Bands wie das Art Ensemble Of Chicago, Muhal Richard Abrams, Liberty Ellman, Steve Lehman, Steve Coleman und Tyshawn Sorey, um nur einige zu nennen.

Mit der Stream-Reihe This Is Now – Love In The Times Of Covid 19 ist Pi Recordings eins der ersten Labels, das aktiv auf die Corona-Pandemie reagiert. Die ersten beiden Veröffentlichungen der Reihe sind Steve Lehmans „Xenakis And The Valedictorian“ und Vijay Iyers und Mike Ladds „InWhatStrumentals – Music From In What Language?“. Über die Intentionen der Online-Serie sprach Wolf Kampmann mit Seth Rosner von Pi Recordings.

Wolf Kampmann: Du hast für das Label Pi Recordings einen Weg gefunden, sehr direkt auf den Lockdown und die Folgen für die Jazz Community zu reagieren.

Seth Rosner: Wir haben hier niemanden, an den wir unsere Klagen richten könnten. Die Politik, speziell die aktuelle Regierung hat nicht viele Sympathien für Jazzmusiker. Um fair zu sein, gibt es einige Organisationen, die neue Programme und Stipendien aufgelegt haben, aber es sind viel zu viele Musiker für so wenig Geld. Die Höhe der Hilfe, die sie kriegen können, ist verschwindend gering im Vergleich zu den Verlusten, die sie erleiden. Es gibt keine Sommer-Festivals. Selbst wenn die Flüge wieder einsetzen, haben doch viele Leute Angst zu fliegen. Wer will schon sechs Stunden auf einem Flug über den Atlantik in zirkulierender Luft sitzen? Die meisten Musiker haben keine Ahnung, wie es für die nächsten zwölf Monate weitergehen wird. Viele Künstler auf unserem Label leben in New York. Die Lebenshaltungskosten sind extrem hoch. Einige von ihnen haben Universitätsjobs. Steve Lehman unterrichtet an der Westküste, auch Vijay Iyer und Tyshawn Sorey haben Professuren und verfügen über ein festes Einkommen. Gemeinsam haben wir darüber nachgedacht, wie wir Menschen helfen können, die wir als Teil unserer Familie erachten und nicht auf diese Möglichkeiten zurückgreifen können. Steve machte den Anfang. Er nahm ganz spontan diese EP auf. 100 Prozent der Einnahmen gehen an Musiker, die den größten Teil ihrer Arbeit verloren haben. Vijay Iyer spendet den Erlös aus seinem Album an farbige Menschen, die von Covid-19 betroffen sind. Es ging einfach darum zu helfen, und das schnell.

Wolf Kampmann: Euer Job ist es ja eigentlich, Platten zu veröffentlichen. Was bedeutet diese Aktion für ein Label?

Seth Rosner: Wir wollen im Moment keine neuen Alben rausbringen. Angesichts der hohen Zahl von Todesfällen in der Jazz-Community sind wir alle sehr betroffen. Es fällt unglaublich schwer, überhaupt positive Gedanken zu fassen, denn wöchentlich verlieren wir links und rechts Menschen. Die Journalisten wollen über die Musik schreiben, die sie lieben. Stattdessen müssen sie drei Nachrufe pro Woche verfassen. Das ist schrecklich. In dieser Umgebung, in der es überhaupt nicht mehr um die Musik selbst geht, wollen wir keine neuen Alben rausbringen. Wir haben ein paar fertige Aufnahmen von Henry Threadgill, Steve Coleman, Dan Weiss und anderen Musikern, die jetzt warten müssen. Es fühlt sich nicht fair an, sie jetzt zu veröffentlichen. Wir pausieren, aber in dieser Zeit können wir unser Know-how und unsere Kontakte nutzen, um zu helfen. Wenn wir Platten verkaufen, bezahlen wir die Musiker. Wenn wir jetzt keine Platten verkaufen, müssen wir eben einen anderen Weg finden, um die Musiker zu bezahlen. Der Unterschied besteht darin, dass nichts von dem Geld bei uns selbst bleibt. Aber wir haben ja auch keine Press- oder Studiokosten, insofern ist das okay.

Wolf Kampmann: Derzeit wird ja viel über die Zukunft von Streams nach der Corona-Krise geredet. Könnte aus der Reihe ein zweites Standbein für Pi Recordings werden?

Seth Rosner: Vielleicht, ich könnte mich mit dieser Idee anfreunden. Regulär veröffentlichen wir nicht mehr als sechs oder sieben Platten pro Jahr. Das ist eine ganz enge, sehr bewusste und gut betreute Auswahl. Es gibt Dinge, die wir zusätzlich gern rausbringen würden, wenn wir mehr Kapazitäten hätten. Aber wir hatten schon lange über eine Form nachgedacht, wie wir jüngeren Künstlern eine Plattform mit weniger Aufwand geben könnten. Das ist nicht das Anliegen der gegenwärtigen Serie, denn die bezieht sich auf Künstler, mit denen wir ohnehin schon lange zusammenarbeiten. Aber ein solches Vorhaben könnte daraus resultieren. Streams sind sehr direkt. Du kannst sie aufnehmen und sofort veröffentlichen. Das hat Vorteile. Aber jetzt ist der falsche Zeitpunkt, um über die Zukunft zu reden.

Seth Rosner

Wolf Kampmann: Ihr stellt alle zwei Wochen einen neuen Stream ins Netz. Wie lange wollt ihr das durchhalten? Niemand weiß ja, wie lange die Pandemie anhalten wird.

Seth Rosner: Ich hoffe, dass die Clubs bald wieder öffnen und die Musiker in New York spielen können. Was das für das Publikum bedeutet, weiß ich noch nicht. Schon vor dem Shutdown wurden die Clubs nur noch zur Hälfte besucht. Kein Club und kein Restaurant kann so langfristig überleben. Vermutlich wird es nach dem Shutdown erstmal auf ein Viertel der üblichen Kapazitäten runtergehen. Es kursiert auch die Idee, dass die Clubs erstmal mit Live-Streams beginnen oder nur ein winziges Publikum zulassen dürfen. Ich kann mir vorstellen, dass das eine Zeitlang funktioniert, denn die Community ist wirklich sehr solidarisch. In diesem Fall könnten wir die Serie überdenken und den Abstand vergrößern. Im Moment planen wir die Serie bis in den Sommer. Und im September werden wir hoffentlich wieder zu einem halbwegs normalen Lebensrhythmus zurückgekehrt sein.

Wolf Kampmann: Steve Lehmans Stream ist ja das komplette Gegenteil von Vijay Iyers Aufnahme. Der eine ist sehr spontan und unbehauen, die andere basiert auf einer fertig produzierten Archivaufnahme. Was können wir darüber hinaus erwarten, und welche neuen Formen der Präsentation von Musik sind da noch in der Pipeline?

Seth Rosner: Von Tyshawn Sorey gibt es ein riesiges Orchester-Stück mit 50 oder 60 Musikern, das noch nie veröffentlicht wurde. Gegenwärtig bereiten wir eine kompakte und hörbare Version zur Veröffentlichung vor. David Virelles nimmt neue Musik in seinem Haus auf, Solo-Piano mit ein paar Electronics. Aktuell sind wir auch mit George Lewis im Gespräch, der ein Stück für Solo-Posaune und seine Voyager-Software produziert, die Piano spielt. Es wird also genau in diese beiden Richtungen gehen. Aufnahmen, die ein Album hätten werden sollen, und spontane Einspielungen, die aus der gegenwärtigen Situation heraus entstehen. Es ist interessant, wie unterschiedlich die Musiker auf die Herausforderung reagieren. Steve Lehman hat seine Musik ganz spontan im Auto aufgenommen.

Wolf Kampmann: Wenden sich auch Musiker an dich, die noch nicht auf dem Label sind?

Seth Rosner: Ja, das passiert, und es ist großartig, auf diesem Weg mit Musikern arbeiten zu können, mit denen sich bis jetzt keine Möglichkeit dazu ergeben hat. Aber das ist nur ein Nebeneffekt. Zuallererst geht es darum, Künstlern zu helfen. Alles andere ist momentan unwichtig. Wir wollen ein Zeichen setzen, dass Hilfe möglich ist. Im besten Fall können wir alle gemeinsam wachsen. Es wäre entsetzlich, wenn wir uns nach dieser Krise nicht verändert hätten. Als Gesellschaft, als Land, als Kultur und als Business. Nicht zuletzt als Menschen. Ich selbst habe in den letzten Wochen sämtliche Werte auf den Prüfstand gestellt, alles hinterfragt. Wir alle müssen neue Wege gehen. Konkurrenz spielt derzeit überhaupt keine Rolle, wir bewegen uns in einer sehr offenen Umgebung. Aber ich möchte nach alledem das Gefühl haben, dass wir fokussierter und organisierter sind. Ich hoffe, wir können einen kleinen Beitrag leisten, Menschen für diese Veränderungen zu öffnen und zusammenzubringen.

Text
Wolf Kampmann
Foto
openstreetmap.org (CC BY-SA)

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