Rede & Gegenrede: Regionalität | Internationalität?
[10.6.2020]
Tourneen sind geplatzt, Musiker in aller Welt müssen aufgrund von Pandemiemaßnahmen zu Hause bleiben. Stream-Konzerte, Veranstaltungen im kleinen und geschützten Rahmen wollen trotzdem bespielt werden. Schlägt nun die Stunde der einheimischen Künstler, die nicht mehr von internationaler Konkurrenz überstrahlt werden? Stehen wir gar vor der Renaissance der Region? Rede und Gegenrede von Stefan Hentz und Wolf Kampmann.
Rede
Die lokale Szene als Rettungsring
Konzerte, Festivals, Tourneen: alle abgesagt, eine nach der anderen. Die Clubs vorläufig dicht, die Proberäume überwiegend verwaist, das Publikum mittels Abstandsregeln weitgehend atomisiert. In Zeiten der Pandemie bleibt wenig, das das Bild vom Jazz als einer Musik mit einem intimen Verhältnis zum Moment ihrer Entstehung stützt. In Zeiten der gesellschaftlichen Erstarrung wurden Streams, Videomitschnitte von Konzerten in leeren Räumen urplötzlich zu dem Mittel, mit dem Musiker ihren ungebrochenen Willen zur Produktivität demonstrieren konnten, willige Konzertbesucher ihr anhaltendes Interesse an Live-Musik, besorgte Gönner ihr Engagement. Berlin, Köln, Hamburg, usw. – überall dort, wo sich eine hinreichend diverse und umtriebige, lokale Szene herausgebildet hat, entstanden, aus der Szene heraus, initiiert von Clubs oder Veranstaltern, von Musikerinitiativen oder besonders aufgeweckten Musikern selbst, Streaming-Reihen, in denen profilierte, lokale Musiker live spielten und demonstrierten, dass die Unterbrechung des Konzertbetriebs nicht notwendig das Ende der Live-Musik bedeuten muss. Zumindest war das in der ersten Phase so.
Zusammenspiel der Kräfte
Dass sich das Zusammenspiel der Kräfte einer Szene als der Ring erweist, der die Musik über Wasser hält, ist nicht überraschend. Übersetzt man den Begriff Szene mit „Community“, ist dieser Zusammenhang gar ein zentraler Bestandteil der DNA des Jazz. Als eine Musik, die ihr Substrat nicht in einem Aufzeichnungsmedium hat, nicht in einem Notenblatt, auf einer Wachsrolle, einer Schallplatte, CD oder Streaming-File, sondern in dem kurzen Moment, in dem zwischen Musikern, Rezipienten und allen anderen, gerade anwesenden Personen ein Prozess abläuft, dessen Magie zu einem wichtigen Teil darauf beruht, dass sich während ihrer öffentlichen Aus- und Aufführung weitaus vielfältigere und stärkere Energien durch Zeit und Raum bewegen. All diese unsichtbaren Energieverläufe zwischen den Beteiligten jedoch, all die Funktionen, die der Musik auch im sozialen Raum innewohnen, als Begleitmusik des Alltags und Anschlusspunkte für Ekstasen, Trancen und andere gemeinschaftliche Formen der Transzendenz, sind technisch nicht reproduzierbar: Mit dem Verklingen der gespielten Klänge und Rhythmen sind sie unwiederbringlich vergangen.
Matadore der lokalen Szenen
All dies stand im Hintergrund, als die Streaming-Reihen entstanden, auf denen einer nach dem anderen die Matadore der lokalen Szenen mit eher kleinen Formationen vor die Kameras traten und spielten. Die virtuellen Clubkonzerte erreichten erstaunlich große Gemeinden von Fans und Zuhörern, und generierten über die Spendenfunktion erstaunlich professionelle Honorarsätze – genau das also, was im Alltagsbetrieb der lokalen Clubs so ganz undenkbar erscheint. Plötzlich funktionierte die Szene als „Community“, zumindest für eine begrenzte Zeit und für die Musiker, die gerade über das passende Repertoire und die passenden Connections verfügen, dass sie für die unterschiedlichen Streaming-Reihen angefragt und gebucht werden.
Und zugleich nutzten manche dieser Streaming-Reihen die Not der Stunde, mit ihren Angeboten einen Schritt aus der lokalen Öffentlichkeit herauszutreten und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass sie die lokale Szene als Ganzes darstellen, und aufzeigen, was sie alles in ihren unterschiedlichen Verästelungen an interessanter Musik aufstellen kann. Und den örtlichen Protagonisten verdeutlichte sie zugleich, dass sie nicht auf kreative Blutauffrischung von außen angewiesen sind, sondern zunächst auf ihre eigene Aktivität.
Soweit die zweite Phase.
Lokale Szenen als Marken
Während also hier und dort daran gearbeitet wird, lokale Szenen zu einer Art Marke auszubauen, von deren Attraktivität jeder einzelne Musiker als Markenartikel profitiert, lockern sich in der dritten Phase die Kontaktbeschränkungen; hier und dort werden – bei kontaktbeschränkter Zuschauerzahl – schon wieder Konzerte veranstaltet.
Da jedoch die uneingeschränkte weltweite Reisefreiheit für internationale Musiker noch längere Zeit nicht zu erwarten ist und die Anwendung von Abstandsregeln die Platzkapazität der Veranstaltungsorte vermindert und damit auch die Einnahmen aus dem Ticketverkauf, läuten wir die dritte Phase ein: Nun ergibt sich für lokale Musiker die Chance, in die entstandenen Lücken zu treten, die Gigs in den hochkarätigen Clubs zu spielen, die endlich wieder öffnen wollen, sich aber die Stars aus der gehobenen Gagenklasse, auf denen ihre Anziehungskraft zuvor beruht hatte, noch nicht wieder leisten können.
Wird schon klappen mit den lokalen Vertretern, allerdings nur für eine Weile und auch das nur unter der Voraussetzung, dass die lokalen Musiker über hinreichend Kraft und Kreativität verfügen, die Spannung nicht nur an den Abenden ihrer Auftritte aufrecht zu erhalten, sondern auch darüber hinaus.
Hier schließt sich der Bogen zur finalen Phase der musikalischen Corona-Bewältigung. Um den Jazz in all seinen Nischen spannend und vital zu halten, wird es nötig sein, das Jazzgeschehen neben seiner Bindung an eine „Community“ auch wieder an eine zweite Eigenheit aus seinem Gen-Pool anzuschließen: Jazz wäre gar nicht erst entstanden, wäre er nicht immer schon eine Musik der Wanderschaft gewesen, deren Botschaft sich sehr schnell über den ganzen Globus verbreitet hat. Zugleich ist sie wie kaum eine andere in der Lage, musikalische Brennstoffe aus allen Weltregionen zu verarbeiten und in ihr Materiallager zu integrieren. Zu voller Blüte wird das Jazzleben erst wieder aufblühen, wenn Jazzmusiker unterschiedlicher Herkunft, Altersklassen und sonstiger Prägungen wieder regelmäßig aufeinandertreffen und auch die lokale Szene im hinterletzten Talkessel potentiell an die fortgeschrittensten Spielarten des Jazz anschließen.
Gegenrede: „Ein Plädoyer für die Internationalisierung des Jazz“ –>