Joel Harrison

Der Krieg als Normalzustand

Stell dir vor, dein Land befindet sich seit dem Tag deiner Geburt im Krieg. Als Joel Harrison darüber nachdachte, gruselte es ihn. Dass sich die Vereinigten Staaten nur allzu gerne auf militärische Konflikte einlassen, hat traurige Tradition und weitreichende Folgen für das gesamte Land sowie Generationen von Soldaten und deren Familien. Den amerikanischen Gitarristen bewog dies zu einem wütenden, musikgewaltigen Projekt, das er mit einem 18-köpfigen Orchester in die Tat umsetzte. Unbedingt hinhören!

Joel Harrison

Die Liste ist erschreckend lang und furchteinflößend, vor allem, weil sie inzwischen so normal geworden ist wie der tägliche Sonnenaufgang: Seit Joel Harrisons das Licht der Welt erblickte, gab es zuerst Korea, dann die Suezkrise, Laos, das Säbelrasseln vor Kuba, natürlich Vietnam, Kambodscha, Jordanien, Angola, El Salvador, Iran, Afghanistan, Nicaragua, Libanon, Grenada, Libyen, Panama, Liberia, den Drogenkrieg in Kolumbien, Saudi-Arabien, Kuweit, das Kosovo, Irak, Haiti, Sudan, Somalia, Uganda, den Kampf gegen den Islamischen Staat, die Ukraine… Seit der Gründung der Vereinigten Staaten hat das Land insgesamt 219 Mal Krieg geführt, militärisch interveniert oder war in kriegsähnliche Handlungen verwickelt, etwa über Geheimdienstbeteiligungen an Terroranschlägen oder Putsch- und Umsturzversuchen auf dem Territorium eines anderen Staates.

Die Corona-Pandemie, die in New York besonders stark zuschlug und zuschlägt, hat die seit Jahrhunderten fest zementierten Koordinaten von Grund auf verändert. Sie traf Amerika nahezu unvorbereitet und hilflos. Der Krieg gegen den unsichtbaren Feind lässt sich nicht mehr mit Soldaten, Gewehren, Bomben und Panzern schlagen. Die Truppen und Waffen bestehen inzwischen aus Ärzten, Pflegepersonal und Beatmungsgeräten. „Das ist etwas Neues, völlig Ungewohntes für sie“, erzählt Harrison, der wie viele andere zum Zeitpunkt des Telefonats in seinem Appartement in Fort Greene, einem Stadtteil von Brooklyn, zum Nichtstun verdammt ist. (Das Gespräch fand während des Lockdowns im Frühjahr 2020 statt – Anm. d. Red.) „Auf dem Gebiet besitzt Amerika keinerlei Erfahrung. Dieser Krieg ist ja durch den Präsidenten und seine Dummheit noch viel schlimmer geworden. Wir hätten nicht so viele Menschenleben verloren, wenn er und die Regierung früher reagiert hätten!“

Joel Harrison war im Laufe seiner Karriere noch nie einer, der ein Blatt vor den Mund genommen hätte. Konsequent umschiffte er jeden Anflug von Mainstream und versuchte stattdessen, mit gezielten musikalischen Provokationen zum Nach- und Umdenken anzuregen. All seine Projekte besitzen einen tieferen, meist politischen Sinn. Dass er ausgerechnet in einer extremen Krisenphase das nationale Trauma „America At War“ (Sunnyside/Broken Silence) anpacken sollte, war zum Zeitpunkt der Entstehung nicht einmal im Ansatz vorhersehbar.

„Ich suchte ein starkes, beherrschendes Thema, weil mich die Frage des ‚Warum‘ seit langem bewegt. Ich bin jetzt 62 Jahre alt, und solange ich lebe, kann ich mich nicht daran erinnern, dass die Kriegsmaschinerie irgendwann stillstand. Wir machen uns viel zu wenig Gedanken über das Leid, das Kriege über Generationen von Soldaten und deren Familien bringen. Kaum jemand kennt all die Veteranen und weiß, wie sie ihr kaputtes Leben bewältigen müssen!“

All diese Fragen versuchte der Gitarrist und Arrangeur in ein musikalisches Kammerspiel voller Empathie und Intensität umzusetzen. Mithilfe der Aaron Copland Foundation und des New York State Council of Arts nahm die Idee Gestalt an. Bei der Aufnahmesession im Januar 2019 saß ein 18-köpfiges Orchester, unter anderem mit der Trompeterin Ingrid Jensen, dem Posaunisten Alan Ferber oder dem Saxofonisten Jon Irabagon, unter der Leitung von Matt Holmann im Studio. Schon die ungewöhnliche Instrumentierung signalisiert: Anstelle von Wohlklang dominieren hier ungewöhnliche, teils schrille Klangfarben, erzeugt durch Englischhörner, Timpani genannte Kesselpauken oder die japanische Bambusflöte Shakuhachi. Mit ihnen surft das Ensemble teils elegant, teils brachial durch Collagen und an Rock und Funk erinnernde Texturen wie in „My Father In Nagasaki“, „The Vultures In Afghanistan“, „Stupid, Pointless, Heartless Drug Wars“ oder „Yellowcake“. Letzteres rückt George W. Bushs Lügengeschichten zur Rechtfertigung des zweiten Irak-Kriegs in den Fokus, die Harrison raffiniert in einen Rap-Titel von 50 Cent („In Da Club“) aus jener Zeit verkleidet.

„Ich habe mich gewundert, wie kraftvoll und extrem gut sie alle spielten“, konstatiert der Bandleader. „Scheinbar habe ich mit dieser Thematik auch bei ihnen einen Nerv getroffen.“

Text
Reinhard Köchl

Veröffentlicht am unter 136, Feature, Heft

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