RIP: Christian Broecking

Christian Broecking (1957-2021)Christian Broecking (1957-2021)Ein warmer Frühsommer-Tag Anfang der 2000er-Jahre in Frankfurt, dort, wo die Zeil in die Hauptwache übergeht: Ich hatte Christian Broecking in der Redaktion vom Klassik-Radio, dessen Studio Hessen er damals leitete, abgeholt. Wir schlenderten an einem der Obststände auf Frankfurts berühmter Einkaufsstraße vorbei, als er mich plötzlich festhielt und auf einen der Äpfel zeigte: „Du, der Apfel heißt tatsächlich ,Jazz‘.“ Wir beide mussten schmunzeln und kauften zwei dieser Jazz-Äpfel. Sie schmeckten gut – und wir fragten uns, wieso ein Obstbauer seinen Apfel mit dem „Unverkäuflichkeitsstigma“ Jazz belegen konnte. Ich nahm mir vor, noch am nächsten Tag den Bauern zu recherchieren.

Gesagt, getan: Ich fand die Website eines neuseeländischen Züchters, der seine Ware als Jazz-Äpfel nach Europa exportierte. Ich fragte ihn per Mail nach dem Warum der für einen Apfel ungewöhnlichen Namensgebung. Seine Antwort kam prompt: Er sei Fan von Charlie Parker und seine Apfelzüchtung schmecke so frisch und spritzig wie der Saxofon-Chorus des Bebop-Revoluzzers über die Changes von „Scrapple From The Apple“ klinge. Ich leitete die Antwort an Christian weiter und wir flachsten über die globalisierte Musikgattung Jazz, die selbst einer Apfelsorte von der Europa gegenüber liegenden Seite der Welt den Namen gab.

Obwohl wir als Musikjournalisten das gleiche Feld beackerten, so war unsere Herangehensweise an Jazz und improvisierte Musik verschieden. Näherte sich Broecking auch als Journalist und Kritiker dem Jazz stets von einer musikwissenschaftlichen Position an, so sah ich mich eher in der Rolle des Vermittlers, obwohl auch ich studierter Musikwissenschaftler bin. Mit unseren Positionen ergänzten wir uns dennoch in unseren Diskussionen und Kontroversen, aus denen sich oftmals Impulse für unser Arbeitsfeld ergaben; gleichgültig, ob für einen jazzjournalistischen Service wie die Jazz thing News, die Christian und ich fast 20 Jahre lang im wöchentlichen Wechsel schrieben, oder für eine Kolumne wie „Community Talk“, deren Idee Christian mit mir diskutierte, bevor er sie dem Herausgeber und Chefredakteur von Jazz thing, Axel Stinshoff, vorstellte.

Mit seinem „Community Talk“, den Broecking über Jahre regelmäßig für Jazz thing verfasste (und der auch fast 200 Folgen lang als eine Art Proto-Podcast auf jazzthing.de hochgeladen wurde), griff er noch einmal auf das Konzept seines Buchs „Der Marsalis-Faktor“ von 1995 zurück. Darin dokumentierte er „kulturpolitische Gespräche zur afroamerikanischen Kultur der 90er Jahre“ (so der Untertitel), die er unter anderem mit einigen der damals als „Young Lions“ bezeichneten Traditionalisten wie Wynton Marsalis ebenso geführt hatte wie mit den Avantgardisten um Lester Bowie, um den Streit über die Deutungshoheit im afroamerikanischen Jazz zwischen beiden Lagern, die sich geradezu unversöhnlich gegenüberstanden, darzustellen.

Hierzulande wurde Christians Buch durchaus kritisch rezipiert – weniger wegen des Inhalts, eher wegen der Methode. Denn er folgte auch später selten einer Arbeitshypothese, die es zu verifizieren galt, oder einem Narrativ, von dessen Wahrheit er überzeugt war. Vielmehr sollten die Aussagen seiner Gesprächspartner/-innen für sich stehen, unkommentiert durch ihn als Autor, um die Wahrhaftigkeit und Dringlichkeit des Anliegens der durch ihn befragten Menschen unverfälscht wiederzugeben. Die Kontextualisierung dieser Aussagen überließ Christian ganz der Leser- und Hörerschaft – selbst dann, wenn sich darin radikale Meinungen und extreme Haltungen zeigten. Diese Methode mochten einige aus dem Forscherkreis und dem Feuilleton nicht, weil sie ihrem Anspruch einer kritischen Wissenschaft und reflektierenden Journalistik zuwider lief. Christian lehnte aber für sich eine „Gatekeeper-Rolle“ ab: Nur so lasse sich das immanent Politische beispielsweise der afroamerikanischen Musikgattung Jazz darlegen – davon war er überzeugt.

Christian Broecking wurde 1957 in Flensburg geboren. Über den zweiten Bildungsweg machte er Abitur und studierte an der Freien Universität Berlin Soziologie, Musikwissenschaft und Publizistik. Er war bis 1998 Programmleiter beim Jazzradio Berlin, schrieb als Jazzkritiker für Tages- und Wochenzeitungen wie die „taz“, die „Süddeutsche Zeitung“ oder „Die Zeit“ und arbeitete als Hörfunkautor für verschiedene ARD-Anstalten. Parallel zu seiner journalistischen Arbeit verfolgte er seine wissenschaftliche Karriere: So war er zum Beispiel Redner für einige Ausgaben des Darmstädter Jazzforums, organisierte selbst Symposien und Konferenzen wie 2012 „Lost In Diversity – A Transatlantic Dialogue On The Social Relevance Of Jazz“ am Heidelberg Center For American Studies und hatte Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen und Universitäten – zuletzt am Winterthurer Institut für aktuelle Musik in der Schweiz.

2011 publizierte er im eigenen Broecking Verlag seine Dissertation „Der Marsalis-Komplex. Studien zur gesellschaftlichen Relevanz des afroamerikanischen Jazz zwischen 1992 und 2007“, mit der er die Methodik von „Der Marsalis-Faktor“ kategorisierte und auf ein wissenschaftliches Fundament stellte. Nach vielen Gesprächen mit Irène Schweizer brachte Broecking 2016 die Biografie dieser namhaften Schweizer Pianistin, „Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik“, heraus, noch dieses Jahr sollen die 480 Seiten in englischer Übersetzung erscheinen.

2017 wurde ich auf der Bremer jazzahead! mit dem „Preis für Deutschen Jazzjournalismus“ ausgezeichnet. Nachdem diese Nachricht öffentlich geworden war, bekam ich von Christian einen Anruf: „Ich bin stolz auf dich!“ – mehr sagte er nicht. Was Außenstehenden arg lapidar und lakonisch daher gesagt erscheinen mag, ist für mich Zeichen höchster Anerkennung durch meinen „imaginären älteren Bruder“ gewesen und beschreibt die „ganz eigene Art“, wie wir miteinander befreundet waren. Gut ein Jahr zuvor wurde bei Christian Krebs diagnostiziert. Waren die Ärzte anfangs noch zuversichtlich, dass er die Krankheit besiegen könnte, so bekam er nach Operation, Chemotherapie und Reha eine äußerst schlechte Prognose. Mehr als drei Jahre hat er diese Prognose überlebt: Am 2. Februar ist Christian Broecking im Alter von nur 63 Jahren gestorben; sanft und friedlich zu Hause, umgeben von seiner Familie, wie mir seine Frau Maxi Sickert am Telefon erzählte.

Text Martin Laurentius

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Broecking Verlag

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Martin Laurentius

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