Transit Room. Gordon Pym

Berlin lebt und klingt. Nach Grau in Grau und Rot-Rot, nach Kleinkunst und Hochkultur, nach Märchenwald und Verkehrschaos, nach Edelbordell und Klapsmühle, nach Vergangenheit und Zukunft. Den ultimativen Soundtrack für die momentan spannendste Stadt der Welt liefert ausgerechnet ein Euro-Sextett, das sich mit einem in Berlin durchaus bekannten Namen schmückt. Transit Room, das neue Aushängeschild der Jazz thing Next Generation-Reihe, ist gehaltvoll, nahrhaft und rattenscharf. Oder: Salat für die Gehörschnecken.

Transit Room - Gordon Pym

Alle Wege führen nach Berlin – inzwischen. Vor 1989 jedoch, als es noch zwei deutsche Staaten gab, konnten Reisende dorthin nur über feste, streng kontrollierte Autobahnen, Schienenstränge und Luftrouten gelangen. So etwas nannte man Transitraum. Ein Korridor für den Übergang von der einen in die andere Welt. Erst die Spreemetropole gab diesem relativ theoretischen Wortkonstrukt eine reale Bedeutung. Dass es auch heute noch, über zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer, jede Menge Transiträume in Berlin gibt, virtueller, symbolischer und konkreter Natur, ist vor allem der kreativen Urgewalt der Hauptstadt zu verdanken. Dabei geht es um Keimzellen, in denen verschiedene Nationalitäten, Weltanschauungen und Sprachen aufeinandertreffen und sich gegenseitig befruchten. Die pulsierende Jazzszene gehört zweifelsohne dazu.

„Ohne Berlin wären wir uns garantiert nicht begegnet“, stellt Andreas Waelti klar, Bassist, Komponist, Pressesprecher und so etwas wie ein Kümmerer im Ensemble Transit Room, das mit seinem bemerkenswerten Erstling „Gordon Pym“ (Double Moon/SunnyMoon) der 32. Ausgabe der JT Next-Generation-Reihe Gestalt verleiht. Waelti (30) ist, wie der Name schon verrät, ein waschechter Schweizer ohne jedweden Anflug von schwyzerdütschem Dialekt. Ansonsten tummeln sich da noch Drummer Tobias Backhaus (26) aus Darmstadt, Gitarrist Samuel Halscheidt (32) aus Essen, Tenorsaxofonist und Bassklarinettist Daniel Glatzel (26) aus Düsseldorf, Vibrafonist Karl Ivar Refseth (33), der im schwedischen Lillehammer das Licht der Welt erblickte, aber im ostnorwegischen Brøttum aufwuchs, sowie Altsaxofonist Pierre Borel (23) aus Paris in ihrem eigens entworfenen Transitraum.

Dabei handelt es sich mitnichten um ein steriles Labor, sondern um ein lichtdurchflutetes Zimmer, um einen Ort, in dem permanente Frischluft dafür sorgt, dass jeder traditionelle Mief im Keim erstickt wird. Als Kontaktbörse fungierte natürlich die Jazzabteilung der Universität der Künste.

„Ich habe die anderen gefragt, ob sie mal Lust hätten, miteinander zu spielen. Geplant war da zunächst gar nix, vor allem nicht, dass es dermaßen kunterbunt wird.“

Wenn Waelti, der trotz seiner Spontaneität jedes Wort abwägt, „kunterbunt“ sagt, dann meint er das auch so. Seit Frühjahr 2006 nämlich dröhnt, ächzt, flötet, fiept oder scheppert aus diesem Transit Room in der Tat der ultimative Soundtrack des multikulturellen Berlin des 21. Jahrhunderts heraus. Lebendige Musik mit Fantasie, Tiefgang und einer Portion Anarchie, an der man sich kaum satthören kann. „Salat für die Gehörschnecken“ oder „joyful noise with toys“, wie das Bandinfo witzig-spritzig kundtut. Und „ziemlich nahrhaft“, wie Andreas Waelti das beschreibt, was hinter all dem geistreichen Nonsens steckt, der sich in kruden Eigenkompositionen wie „Weiße Einhörner Mit Nutellaverschmierten Mäulern“ entlädt. Die sechs nützen die fallenden Stilgrenzen – und das weidlich.

Natürlich sei es Jazz, meint Waelti. Aber eben keiner, bei dem man auf der CD schon nach 30 Sekunden zum nächsten Stück weiterklicken möchte. „Es lohnt sich, genauer hinzuhören. Bei uns passiert eine ganze Menge“, betreibt der helvetische Mastermind durchaus überzeugend Werbung in eigener Sache.

„Wir lieben es, wenn sich die Zuhörer überlegen, ob eine ganz bestimmte Passage aufnotiert oder frei improvisiert ist. Jeder von uns bringt etwas mit ein, sei es traditioneller Jazz, Klassik, Avantgarde, Pop oder Rock.“

Dies liegt nicht zuletzt an der vielfältigen Vernetzung der Bandmitglieder. Waelti zupft den Bass im Andromeda Mega Express Orchestra, in dem unter der Leitung von Daniel Glatzel Jazzer und Klassiker neue Klanglegierungen erforschen. Glatzel wiederum kollaboriert mit Notwist, Gitarrist Halscheidt mit der Popband Meral sowie dem Avantgarde-Trio Luc Tonnerre, Letzteres zusammen mit Altsaxofonist Borel.

„Natürlich könnte solche Musik auch anderswo entstehen“, spekuliert Andreas Waelti. „In Zürich oder vielleicht in Paris. Aber Berlin inspiriert uns ganz besonders, auch weil hier im Vergleich zu anderen Szenen kein Futterneid herrscht.“

Ganz nach dem Motto: Je billiger der Kebap, desto schärfer der Sound. Wahrscheinlich kann nur in einem solch kreativen Biotop auch ein Albumtitel wie „Gordon Pym“ entstehen, entliehen dem Namen einer zur See fahrenden Romanfigur von Edgar Allan Poe, die skurrile Abenteuer erlebt. Dass sich das Euro-Sextett nicht auf ein kurzlebiges Abenteuer einließ, sondern gut vier Jahre wartete, bis es seine Debüt-CD zur Veröffentlichung anbot, spricht keineswegs gegen die Jungs.

„Ich blieb zunächst nur für ein Jahr in Berlin und musste zurück in die Schweiz“, erklärt Waelti. „Als ich wieder zurückkam und wir einige Konzerte bestritten, war es zunächst geplant, 2008 ins Studio zu gehen. Doch kurz vorher musste Pierre Borel ins Krankenhaus, um sich seinen Blinddarm rausnehmen zu lassen. Da sagten wir alles ab, um auf ihn zu warten. Und weil jeder von uns immer ziemlich viel zu tun hat, dauerte es eben wieder ein bisschen.“

Bei Transit Room handelt es sich eben keineswegs um eine Eintagsfliege, sondern um ein verschworenes französisch-deutsch-norwegisch-schweizerisches Gespann, das in und um Berlin längst eine ähnliche Reputation genießt wie Der Rote Bereich, Die Enttäuschung oder Johnny La Marama. In Jazzparametern lässt sich die Musik für Linernoter Tom Gsteiger, einen Landsmann von Andreas Waelti, wie folgt beschreiben:

„Duke Ellington, Billy Strayhorn, Charles Mingus und Eric Dolphy steigen aus ihren Gräbern, nehmen einen Humorkurs bei Monty Python und komponieren dann ein paar neue Stücke. Ungefähr so klingt Transit Room. Nicht schlecht, oder?“

Und hoffentlich nur der Anfang eines langen Weges.

Veröffentlicht am unter Next Generation

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