1958

Pit HuberKürzlich fiel mir auf, dass einige meiner Freunde dieses Jahr schon ihren 50. Geburtstag feiern. By the way: Happy birthday, Werner, Andreas, Martin, Heike, Reinhard, Thomas, Rainer usw.! Sie alle sind 1958 geboren. 1958 – das muss man sich mal vorstellen! Da ahnte noch keiner was vom Free Jazz, von John Coltranes Langstrecken-Ekstasen, von elektrischer Fusion und elektrischem Funk! Wynton Marsalis war bei seinen Eltern noch nicht mal in Planung!
 
Und doch war alles voller Jazz damals: Art Blakey machte mit „Moanin‘“ gerade einen neuen Anfang, Billie Holiday nahm ihre letzte Platte auf und Ornette seine erste, in Newport entstand der Film „Jazz on a Summer’s Day“ und in Harlem das Foto mit den 57 Jazzmusikern, Louis und Ella sangen „Porgy and Bess“, Count Basie veröffentlichte seine beste Scheibe und Miles startete mit „Milestones“ in die modale Improvisation. 1958 war DAS Jahr des Jazz. Den Babys wurde Jazz praktisch in die Wiege gelegt. Übrigens: Auch Don Byron wurde 1958 geboren, Bela Fleck, Jim Snidero, Kevin Mahogany, Michael Formanek, Satoko Fujii, Vernon Reid, Lewis Nash, Kent Jordan, Kenny Drew Jr., Howard Alden…
 
Die Pop-Hits von 1958 interessieren längst kein Schwein mehr. Perry Como, der River Kwai March, das Musical „South Pacific“ – völlig out. Auch die Klassik-Stars von 1958 – vergessen. Wer will noch die angestaubten Solisten von damals hören, wenn es doch die neuen, schicken Digitalaufnahmen von Sharon Kam, Sol Gabetta und Hélène Grimaud gibt? Nur der Jazz von 1958 – der war einmalig und für die Ewigkeit.
 
Und die Jazz-Babys von 1958, die sind eben auch noch immer da. Aber es ist nicht leicht für sie, wie ich einer Mail entnehme, die ich vor kurzem von meinem Freund Rainer bekommen habe. Als Jazzfan, Jazzenthusiast, Jazzprediger war er immer offen für Neues – abenteuerfreudig, entdeckungslustig. Doch irgendwas sei da am Kippen, schreibt er, wenn man 50 werde: „Die Leute wollen gar nicht mehr, dass du dich noch für das Neue interessierst. Weil du jeden Retro-Trend schon dreimal erlebt hast, darfst du jetzt bloß noch nach hinten schauen.“ Und wirklich: Nur weil er 50 ist, soll er jetzt aus erster Hand auch über den Swing-Boom der Dreißiger und den Savoy Ballroom plaudern können. Dabei hat er sich nie was aus Bigbands gemacht.
 
Er habe sich nicht geändert, meint Rainer, aber der Rest der Welt schon irgendwie. Früher konnte er davon ausgehen, dass man ihn versteht, wenn er Wörter wie „Blues“, „Chorus“ oder „Rhythm Section“ gebrauchte. Jetzt ist er sich da nicht mehr so sicher. „Die Jungen nicken zu allem und kapieren nichts. Ihre ganze Welt wimmelt von englischen Wörtern, aber sie können gar kein Englisch. Kürzlich fragte ich ein Promo-Mädchen von Sony BMG nach lieferbaren Titeln von Miles Davis, da sagte die doch: ‚Wie heißt der? Mike Davis?‘“
 
Wenn man mal aufmerksam geworden ist, entdeckt man’s überall. Gestern las ich: „Die Beethovenhalle in Bonn ist nach Ludwig van Beethoven (1770-1827) benannt, einem deutschen Komponisten.“ Klar, woher sollen sie den auch kennen? Beim Hessischen Rundfunk gibt es jetzt ein Programm speziell „für die ältere Generation über 30″: Nur dort dürfen noch Fremdwörter aus dem Lateinischen benutzt werden. Im Netz findet man Listen von Musikern der Kategorie „Gestorben vor 1990″: Über diese Musiker weiß man nichts, das ist prädigitale Information, für die Internet-Gemeinde für immer verloren. Dafür wird in Online-Foren wochenlang über Fragen diskutiert, die ein kurzer Blick in ein Musiklexikon sofort beantworten könnte – aber da schaut keiner mehr nach.
 
Und dann dieses kindische Misstrauen der Jungen gegen die Plattenindustrie! Generation Download hält die Musikbranche für eine Art böses Monster aus dem Weltall. Die 50-Jährigen wissen es natürlich besser: Ohne die Plattenlabels hätte es den ewigen Jazz von 1958 nie gegeben. „Man liest die neuesten Statistiken und weiß schon: Die sind von Doofen für Doofe formuliert“, schreibt Rainer. „Da steht: 15 Prozent Umsatzrückgang bei den Tonträgern, 55 Prozent Zuwachs beim Download-Umsatz. Da sagt sich dann der Jungmanager: Aha, die CD ist tot, geben wir ihr den Gnadenstoß! Und Lieschen iPod sagt sich: Da macht die böse Musikbranche ja 43 Prozent Gewinn! Also doch besser illegal runterladen! – Dabei bringt Download momentan noch keine 5 Prozent des Umsatzes rein.“
 
Die 50-Jährigen hängen eben noch an ihren Tonträgern, so viel steht fest. Ihr ganzes Leben steckt eben irgendwie da mit drin. Und wenn die Generation Doof auf die hohen CD-Preise schimpft, dann sagt Rainer immer: „Alles Quatsch. Ich erinnere mich noch, als die Frühstücksbrötchen 10 Pfennige kosteten.“ (Für die Jungen: Das war früher eine gängige Währungseinheit in Deutschland; 10 Pfennige entsprechen etwa 5 Cent.) „Für mein erstes Fischer-Taschenbuch habe ich 2 Mark 80 bezahlt“ – 1,40 Euro – „und für mein erstes großes Rockkonzert 14 Mark“ – 7 Euro. Heute zahlst du für alles das Zehnfache, nur die Tonträger kosten praktisch noch dasselbe wie früher. So what?“ Nein, es ist wirklich nicht leicht für die Babys von 1958.
 
Pit Huber

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2 Kommentare zu „1958“

  1. Ich bin zwar auch schon über 50 und mein Frust zur Jazz-Lage ist nicht geringer, aber ich sehe die Gründe weniger in einem Generationenproblem:

    Für die Entwicklung eines Jazz-Interesses braucht es wohl zunächst einmal eine Initialzündung: Man kommt in irgendeiner Weise so mit Jazz in Berührung, dass ein Funke überspringt. Und dann braucht man meines Erachtens so etwas wie einen Reiseführer: primär wohl Informationen aus Medien, denn Jazz-Kenner sind so vereinzelt und verstreut, dass man selten auf einen trifft, der sich auskennt – es sei denn, man macht eine Musikausbildung. Ich rede hier jedoch vom reinen Hörer (der ich selbst bin). In meinen jungen Jahren bekam ich viele Anregungen aus dem Radio – vom ganz normalen Sender, zu ganz normalen Zeiten. Ich hörte eine Menge lateinamerikanische Musik in wirklich gut gemachten Sendungen und das führte mich irgendwann zum Jazz. Ein Bekannter brachte mich auf das „Jazzbuch“ von Berendt und das war damals noch wirklich lesbar. Die neueste, von Günther Huesmann aktualisierte Fassung ruht bei mir im Kasten; ich verwende immer die letzte Fassung von Berendt – schon deshalb, weil bei Berendt wichtige Namen fett gedruckt sind und man sich dadurch viel leichter orientieren kann. Dass es bei Huesmann keine fett gedruckten Namen mehr gibt, finde ich symptomatisch: Es kommt keine Wertung mehr zustande (außer einer falschen: John Zorn), die das wirklich Wichtige heraushebt und damit die ganze Sache verdaulich macht.

    Ich denke, jede Musikkultur kann nur dadurch bestehen, dass es innerhalb einer Art Kollektiv geteilte Wertvorstellungen gibt, was gut und richtig klingt und was nicht entspricht. Steve Coleman erzählte über seine Zeit als junger Musiker in Chicago: „Als ich aufwuchs und in Von Freemans Sessions spielte, gab es bestimmte Dinge, die wichtig waren. Dein Sound, dein Groove und wie du dich selbst ausdrückst. […] Es gab ständig diese Kritik daran, dass man keinen Sound hat, keinen guten Groove, eine Menge Kritik am Rhythmus: Dieser Typ kann nicht swingen, er hat kein Feeling usw.. Es ist also keine intellektualisierte Sache, es ist einfach eine Frage des Lernens dieses speziellen Idioms von diesen Meistern, die vor einem kamen. Man muss mitkriegen, was es ist, das sie gut ausdrücken können. Wie man erreicht, dass es sich in einer bestimmten Weise anfühlt, wie man verbindet, wie man swingt. Man hört die Typen über das Gleiten [floating] des Rhythmus, das Swingen des Rhythmus und all diese verschiedenen Begriffe reden. Man muss das mitkriegen. […]“

    Das Selbe braucht es meines Erachtens auf der Hörer-Seite: Leute, die eine ziemlich klare und zutreffende Vorstellung haben, auf was es in einer Musik-Richtung ankommt, und die über die Medien (Radio, TV, Bücher, Internet) Hörern ein Gefühl für diese Musik vermitteln. Als ich im österreichischen Radio den Moderator Walter Richard Langer (sehr smart) über Jazz reden hörte, stimmte das perfekt überein mit dem, was ich in Berendts Jazzbuch las, und Berendt harmonierte wohl weitgehend z.B. mit dem Franzosen André Hodier (den er öfters zitierte) und vor allem orientierte er sich stark an den Meinungen von anerkannten Musikern, mit denen er persönlich Kontakt hatte. Das war natürlich gewiss nicht so reibungsfrei, wie ich es hier darstelle, aber es gab doch anerkannte große Linien im Jazz – mehrere, auch konkurrierende und solche, die sich später relativierten … aber eben doch weit mehr als bloß einen Haufen Beliebigkeit. Dazu kam, dass Medien in dem, was Leute wie Berendt vermittelten, einen Wert sahen, den sie im Sinne ihres Bildungsauftrages ein wenig unterstützen, obwohl das letztlich eine Minderheitensache war –eine Minderheitensache, die im Radio zur normalen Sendezeit so manchen ansteckte. Es gab also nach meinem Eindruck kompetente Leute, die die Vermittlung von Jazz aus einem relativ idealistischen Bildungsanliegen betrieben und die in den Medien ihren kleinen Platz hatten. Das ist heute nach meinem Eindruck weg!

    Viele mögen dazu sagen: Das sei heute auch gar nicht mehr möglich – schon deshalb nicht, weil der Jazz viel zu vielfältig geworden ist. Ekkehard Jost sagt zum Beispiel: „Fragen nach der Funktion und nach den ästhetischen Prämissen des Jazz, Fragen nach dem richtigen oder falschen Weg, nach seiner Zukunft und seinem Ende […] und insbesondere die Frage, ob dieses oder jenes nun eigentlich Jazz sei oder nicht, gehören bekanntlich zu den ältesten Patterns jazzästhetischer Wahrheitssuche.“ In letzter Zeit seien diese Fragen jedoch so allgegenwärtig geworden, dass man ein wirkliches Problem des Jazz feststellen müsse. (Sozialgeschichte des Jazz, 2003).

    Ich meine: Musikerkreise mit eigenen, oft sehr unterschiedlichen Auffassungen von Jazz gibt es doch schon lange. Der Kreis des Dixieland-Revivals der 1940er Jahre und der damalige Bebop-Musiker-Kreis waren auch absolut nicht unter einen Hut zu bringen. Und wenn ich mir so ansehe, wie Ekkehard Jost die Tendenzen der letzten Jahrzehnte zusammenfasst, dann ist das so unübersichtlich auch wieder nicht: die Traditionalisten um Wynton Marsalis, „Free Funk/No Wave/Punk Jazz“, die Downtown-Szene um John Zorn, M-Base um Steve Coleman, eine neue Free-Jazz-Welle (William Parker, Matthew Shipp, Brötzmann usw.), die europäischen Szenen. Ich denk, es ließen sich da schon ganz gut ein paar große Linien im Jazz feststellen und außerdem widerspricht dem Jammern über die Unübersichtlichkeit das ebenfalls häufige Jammern darüber, dass es eigentlich nichts mehr Neues gäbe, alles schon irgendwie gespielt wäre.

    Es mag wohl eine Reihe von Gründen dafür geben, warum der Jazz, wie er in den Medien heute erscheint, eine ziemlich müde, schlappe Sache ist. Und die Gründe mögen ebenso schwer erfassbar sein wie die Faktoren des Auf-und-Ab der Wirtschaft. Ein Aspekt, auf den ich immer wieder stoße, ist aber der, dass an dieser unbefriedigenden Situation nach meinem Eindruck in Wahrheit ein beträchtliches Interesse besteht. Wenn Charlie Parker oder John Coltrane heute leben und die Begeisterung auslösen würden, die man ihnen zumindest nachträglich entgegengebracht hat, dann würde sehr vieles, was heute in die Höhe gelobt wird, marginalisiert werden. Auch eine Menge Leute, die Preise verteilen, auswählen und auf diese und andere Weise ein bisschen Bedeutung auf der Jazz-Szene erlangen, wären komplett uninteressant. Vor ein paar Jahren sagte mir ein Verkäufer in einem CD-Laden, Miles Davis sei nach wie vor einer der großen Renner. Man stelle sich vor, Davis stände aus seinem Grab auf und käme mit dem jungen Quintett der 1960er Jahre (Shorter, Hancock, Carter, Williams) auf Europa-Tournee und alle Jazz-Fans hier wüssten, was da jetzt passiert. Das würde eine Menge lauwarme Luft wegblasen.

    Mir fallen oft Aussagen vom Leiter des Darmstädter Jazz-Instituts, Wolfram Knauer, in einem Radio-Interview ein:
    „Als das Institut [1990] gegründet wurde, da gab es Anrufe aus der Jazz-Szene, insbesondere von Musikern, die sich beschwerten. Was soll denn das? So ein Institut. Da geht öffentliches Geld rein. Das sollte doch viel lieber in die Musik gehen. Und ich hab in der Regel zurückgefragt: Was wollt ihr denn? Ihr könnt nun mal nichts daran ändern, die Stadt hat entschieden und ich hab hier einen Job [als Leiter des Instituts]… Aber ihr könnt mitentscheiden, wie unsere Arbeit aussieht. Also sagt uns, was ihr braucht. Und daraus sind viele Dinge entstanden …“

    Außer den Interessen heimischer Musiker fallen mir gute Gründe für ein Jazz-Institut ein: Es gibt viele Büchereien mit den großen Werken der internationalen Literatur und auch sonstige Bemühungen, der Bevölkerung diese Werke nahe zu bringen (z.B. in den Schulen), obwohl das den heimischen Autoren der Gegenwart nicht das Geringste bringt – im Gegenteil: vielleicht würden die Leute mehr diese Autoren lesen, wenn die internationale Literatur verschwände. Aber kein vernünftiger Mensch würde das wollen. Meines Erachtens bräuchte es auch im Jazz unabhängige Einrichtungen, die das „Kulturgut“ Jazz ohne Rücksicht auf Interessen von Musikern und Plattenfirmen, allein aufgrund eines Bildungsanspruches bewahren, kompetent sortieren und den Hörern vermitteln.

    Wolfram Knauer erzählte weiters über die Jazz-Messe „jazzahead“:
    „Die jazzahead ist ein Zeichen dafür, dass es in Europa im Augenblick sehr viel mehr an kulturellem Wettbewerb gibt, als das vorher der Fall war. Und der Jazz ist in diesen kulturellen Wettbewerb einbezogen. […] Die jazzahead als Jazz-Messe ist tatsächlich sehr Europa-zentriert. […] Wir sind seit Anfang an dabei. Nicht nur mit einem Stand, sondern wir sind auch involviert in ein Projekt, das im Rahmen der jazzahead stattfindet: das German-Jazz-Meeting, das nichts anderes ist als eine Art Showcase-Festival, also ein Festival mit kurzen Beiträgen junger, aktueller deutscher Jazz-Projekte, die vor einem ausgewählten Publikum von Multiplikatoren auftreten, also vor Journalisten, Goethe-Instituts-Direktoren, Festival-Programm-Machern, Club-Besitzern usw., die dann dort die Chance haben, wirklich deutschen, aktuellen Jazz live zu erleben. Denn das ist doch noch einmal etwas anderes, als wenn man ihn von Platte hört. …“

    Die Leute, die den Jazz an die Hörer vermitteln, werden also offenbar ganz schön umworben. Mir fallen dazu die Ärzte-Kongresse der Pharma-Firmen ein, auch wenn das natürlich ganz andere Dimensionen hat. Okay, das ist legitime Lobby-Arbeit. Nur: Wo ist die Lobby für die Hörer? Wer kümmert sich darum, dass den Leuten nicht alles Beliebige als die neue, große Sache des Jazz eingeredet wird; dass sie einen Sinn für die Qualitäten der wirklich großen Werke des Jazz entwickeln können, so wie das bei der klassischen Musik selbstverständlich ist? Jeder öffentlich-rechtliche Sender fühlt sich (wie auch das Jazz-Institut) heute offenbar dazu verpflichtet, der heimischen Szene zuzudienen. Überall in den Medien begegne ich diesen „provinziellen“ Interessen und dadurch sind die Vermittler des Jazz so wenig glaubwürdig wie die Politiker, die ja auch immer irgendwelchen Interessen dienen – nie der puren Sache (dem „Wahren, Guten und Schönen“).

    Ich sah zum Beispiel gestern im TV einen kurzen Ausschnitt des Viktoria-Tolstoy-Quartetts und ich genierte mich (wie so oft bei den Jazz-Sendungen im TV) dafür, ein Jazz-Fan zu sein, so wie es einen Beethoven-Freund ärgert, wenn man André Rieu als Repräsentanten der klassischen Musik hinstellen würde. Später stellte ich fest, dass ich eine Sendung versäumt habe, die mich wirklich interessiert hätte: Bunky Green und Greg Osby zusammen. Begleitet wurden sie allerdings von Europäern und da ist wieder der Punkt, der mir ohnehin den Spaß vermiest hätte: Selbst so herausragende Musiker wie Bunky Green („Bunky personifiziert den Jazz wie kein anderer“, soll Joe Lovano gesagt haben) und Greg Osby scheinen in Europa nicht mehr mit eigenen Bands auftreten zu können. Alles läuft nur mehr, wenn europäische Musiker zumindest mitmischen. Ich hab meinen Ärger über die deutschen Begleiter vom letzten Bunky-Green-Konzert im TV nur zu gut in Erinnerung.

    Was nach meiner Vorstellung fehlt, ist eine Instanz, die der Jazz-Vermittlung Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit verschafft, sodass sie nicht einfach dem Gerangel des Marktes um das Ohr der Hörer überlassen ist. Es bräuchte meines Erachtens vor allem kompetente Kenner in den Medien, die frei genug von Interessensgruppen sind, um den Jazz (Jazz im Sinne der Linie von Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane usw.) aus purer Begeisterung für diese Musik-Kultur an Hörer zu vermitteln. Diese Vorstellung mag naiv sein. Aber dann ist es halt auch kein Wunder, dass die Jazz-Sache ein ziemlich zäher Sumpf geworden ist. Wer am meisten daran schuld ist, dass eine entsprechende Vermittler-Kultur heute nicht zustande kommt (das Musikgeschäft, das Internet, die Interessen der heimischen Szene, der Zeit-, Interessens- und Bildungsmangel der Hörer, die leeren öffentlichen Kassen, die Kommerzialisierung von allem, der Druck in der Arbeitswelt, der Konsum-Schwachsinn usw. usw.), das weiß der Teufel.

    (Das Interview von Wolfram Knauer: http://www.dafacto.de/artikel/kk/10513/index.html)

  2. Lieber Pit Huber,

    ich kann Ihre Affinität zu 1958 nachvollziehen, muß allerdings gestehen, dass ich das Jahr 1959 als „das“ Jahr für den Jazz vorziehe – und zwar aus zwei Gründen:

    1. Kind Of Blue
    2. Time Out

    Aber vielleicht haben ja auch die Geschehnisse im Jahr 1958 erst zu diesen künstlerischen Ergebnissen führen können…? ;o)
    —-

    Lieber Herr mampf,

    das finde ich ein beeindruckendes Pamphlet für mehr musikalische Bildung in der Hörerschaft – ich habe als Musiker oft das Gefühl, dass es schlicht ein Problem der Allgemeinbildung ist, dass das heutige Jazzpublikum (wenn es denn eins gibt) nur noch unterhalten werden will in einem etwas intellektuellerem Gewand. Und mit der Tatsache geschuldet ist, dass den Leuten die Zeit fehlt, um sich so intensiv mit einer Materie auseinanderzusetzen, die nun mal eben so „kompliziert“ wie der Jazz sein kann. („Kennen Sie Stan Getz?“ werde ich nach meinen Konzerten oft gefragt.)

    Aber hat’s nicht eigentlich wirklich kunstaffine Menschen immer nur ganz selten gegeben? Ist nicht auch der durchschnittliche Vernissagenbesucher eher jemand, der sehen und gesehen werden will?

    Musik ist doch ein extrem gesellschaftlich stattfindendes Phänomen und daher immer ein Spiegel der Gesellschaft. Ich finde, dass wir in einem Entertainment-Zeitalter leben und daher das Entertainment-Business (denn natürlich ist das ein großes Geschäft) sogar in der kleinen Marktnische Jazz den Ton angeben will.

    Für mich selbst hat das zwei Konsequenzen: Erstens finde ich Entertainment gar nicht so schlecht – ich werde gerne mal unterhalten und womit, kann ich ja doch immer noch selbst auswählen. Zweitens suche ich mir das neue, spannende selbst, und zwar dort, wo ich seine Entstehung vermute – im „Untergrund“, auf den kleinen und kleinsten Bühnen der Avantgardeszenen der Großstädte. Vermittelt wird doch immer nur, was möglichst breit vermittelbar scheint.

    Gerade als Konsument in unserer heute so durchgestylten Medienwelt, wo jeder Gedanke des Endverbrauchers vorhergesehen werden soll, sind die Medien vielleicht gar nicht mehr in der Lage, einem solchen „Bildungsauftrag“ nachzukommen. Vor allem, wo doch eher der „Entertainment-Auftrag“ gilt.

    Dabei liegt es nicht an den einzelnen Personen – der Chefredakteur vom „jazz thing“ beispielsweise, den ich kurz persönlich kennen lernen konnte, machte auf mich einen äußert engagierten, motivierten und gebildeten Eindruck, mit Idealen und einer eigenen Meinung.

    Aber „die Leute“ wollen eben vor allem unterhalten werden – und jede Gesellschaft kriegt wohl auch die Musik, die sie verdient. Im übrigen glaube ich nicht, dass Coltrane oder Miles heute alles, was an aktuellem Jazz im Raum steht in den Schatten stellen würden. Auch diese großen Meister konnten nur mit Wasser kochen und würden, so glaube ich, heute eine ganz andere Figur abgeben. Weil sie gar nicht so auffallen würden.

    Die Welt ist so vielfältig geworden (weil alles so verdammt nah und verfügbar ist), dass ein Sich-Konzentrieren auf so etwas facettenreiches wie eine einzelne Künstlerpersönlichkeit und ihr Schaffen fast nicht mehr möglich ist – zu viele Gegenentwürfe, Alternativen oder Wettbewerber lenken davon ab.

    Also doch ein Generationenproblem? Wer der Musik von heute keine Chance gibt, kann natürlich auch keine neuen Davisse oder Coltranes entdecken. Aber selbst die hätten heute nicht diese Autorität, die einer einzelnen „Speerspitze“, die Pionierarbeit auf einem Gebiet leistet, zugesprochen wird.

    Ein sehr individueller, dabei sehr erfolgreicher und dennoch sehr bescheidener Musiker hat sich noch zur eingangs beschriebenen Blütezeit eine Vielfalt, wie sie heute herrscht, gewünscht:

    „What would kill me most would be if everyone would go off in a corner and sound like himself. Diversityville. Let a hundred thousand flowers bloom. There is enough conformity in this country without having it prevail in jazz, too“ (Paul Desmond)

    In jedem Fall bin ich für Optimismus.