Ethan Iverson

Der Kritiker am Piano

Selbstkritik gehört bei Jazzmusiker/-innen irgendwie zum eigenen Anspruch. Dass ein herausragender Pianist wie Ethan Iverson aber nebenbei auch noch das Kritikerbesteck in die Hand nimmt, hat mit seiner überbordenden Neugier zu tun. Iverson will nicht nur spielen, sondern auch wissen, warum er das tut. Und dabei machte er manchmal auch vor sich selbst nicht halt.

Ethan Iverson (Foto: Keith Major)

Eigentlich sind die Rollen klar verteilt: Der eine spielt, der andere schreibt darüber. Eine nie ganz konfliktfreie Gemengelage. Nicht selten tröstet sich der Kritisierte mit der angeblich mangelnden Sachkenntnis oder der fehlenden Empathie des Kritikers. Er kann’s halt nicht …

„Ich kenne diese Situation nur zu gut“, lächelt Ethan Iverson. Jeder identifiziert den 49-Jährigen als herausragenden Pianisten, als Mitgründer des Power-Pop-Pianotrios The Bad Plus oder Kollaborateur von Größen wie Lee Konitz, Tootie Heath, Mark Turner, Paul Motian, Charlie Haden, Ron Carter, Tom Harrell, Tim Berne und Kurt Rosenwinkel. Als Komponisten natürlich ebenfalls. Aber die Randnotiz, dass sich Iverson auch einen Kritiker nennt, wird gerne überlesen.

„Ich denke, dass es wichtig ist, nicht nur Musik zu spielen, sondern auch über sie nachzudenken und zu schreiben. Es gibt eine lange Tradition von musizierenden Kritikern, die mit dem klassischen Pianisten Robert Schumann beginnt und bei Mary Lou Williams noch lange nicht endet. Mein Vorbild ist der Pianist und Musiktheoretiker Charles Rosen. Ihm ging es weniger darum, Leute in die Pfanne zu hauen, als vielmehr darum, Musik zu analysieren, sodass andere davon profitieren können. Ich schreibe nur selten Plattenkritiken und lasse mich auch nicht über das Spiel von Kollegen aus. Mir geht es vor allem darum, wie Musik entsteht.“

Deshalb arbeitet Ethan Iverson seit 2005 an seinem Blog „Do the Math“, der bereits eine Reihe von Auszeichnungen bekam und in dem er Interviews und kritische Analysen über zeitgenössischen Jazz veröffentlicht, sowie für Publikationen wie The New Yorker und The Nation. Dies helfe ihm bei seiner Lehrtätigkeit im Jazzstudiengang der New England Conservatory, erklärt der klavierspielende Jazzforscher. Natürlich müsse man dabei in verschiedene Rollen schlüpfen, sagt der Mann aus Brooklyn. Über sich selbst zu schreiben, das fiele ihm allerdings schwer. Auch nicht ausnahmsweise? Momentan böte sich nämlich mit seinem aktuellen Album „Every Note Is True“ (Blue Note/Universal) ein exzellentes Beispiel zur (Selbst-)Reflexion der multiplen Iverson’schen Schaffenspalette an. Eine Sammlung aus zehn Titeln, wie eine Reise, die quasi mit dem Ausstieg bei The Bad Plus Ende 2017 beginnt, in die Vergangenheit blickt, sein Idol Monk, den Blues und den Bebop feiert, die sich mit filmischen Motiven auseinandersetzt und auf die er seine derzeitigen Wunschpartner mitnimmt: den Bassisten Larry Grenadier und Drummer Jack DeJohnette.

„Ich liebe diesen hoch virtuosen, Old-School-Dröhnton in Larrys Spiel. Und Jack ist sowieso der Größte. Abgesehen von seiner bemerkenswerten Jazzkarriere mit Keith Jarrett, Miles Davis, Charles Lloyd und zahllosen anderen Legenden ist er auch einer der großen Rockschlagzeuger.“

Diese Sichtweise überrascht, aber Iverson meint damit keineswegs das klassische Rockgewitter vom Drumset, sondern einen ganz speziellen, modernen Groove wie bei der legendären „Money Jungle“-Session mit Duke Ellington, Charles Mingus und Max Roach. Grenadier und DeJohnette brauchen wenig Vorgaben, lediglich einfache Skizzen. Ähnlich wie bei den großen Blue-Note-Sessions der 1950er- und 1960er-Jahre, wo es vor allem um Melodien mit wenigen Noten ging.

Womit wir bei der Beurteilung des Pianisten Ethan Iverson wären. „Well …“, beginnt der Kritiker Ethan Iverson zögerlich.

„Ich glaube, dass der Typ am Klavier sehr melodisch agiert. Was im Modern Jazz schon eine Ausnahme darstellt, weil es da normalerweise weniger um Melodien geht. Und er ist kein Speeddämon, keiner, der so viele Noten wie zum Beispiel Oscar Peterson spielen möchte. Das braucht er nicht. Es erweckt den Anschein, als wüsste er, worum es bei Jazzharmonien geht und wie man gleichzeitig abstrakte Strukturen aufbaut. Das unterscheidet ihn von vielen seiner Kollegen. Zufrieden?“

Perfekt!

Und Ethan Iverson ist es wohl selbst auch. „Vier von fünf Sternen“ würde er sich geben, was aber hauptsächlich am Opener „The More It Changes“ mit einem 44-stimmigen virtuellen Coronachor liegt.

„Ich bin ein schrecklicher Sänger“, gibt Iverson zu. „Man kann mein Geträller weit oben im Mix hören. Aber ich liebe dieses unprofessionelle Singen! Ein Amateurchor oder ein Kinderchor ist ein herrlicher, fast filmischer Klang.“

Beim Rest ist aber jede Note die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Text
Reinhard Köchl
Foto
Keith Major

Veröffentlicht am unter 143, Feature, Heft

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