Zurück ins Karbon

Elliott Sharp auf Spurensuche

Elliott Sharp tanzt auf vielen Hochzeiten. Auf zu vielen, meinen seine Kritiker. Dabei mag er gar nicht tanzen; vielmehr gibt er stets den Takt an. Sein Taktstock besteht seit drei Jahrzehnten aus Karbon. Gegenwärtig arbeitet Elliott Sharp neben vielen Solo- und Duo-Programmen vor allem in drei Projekten, seiner Blues-Band Terraplane und ihrem Ableger Electric Willie sowie der Langzeit-Formation Carbon.

Elliot Sharp CarbonMit Carbon führt er sogar ein Doppelleben. Gerade erst hat er die neue CD „Void Coordinates“ mit Zeena Parkins, Marc Sloan, David Weinstein und Joe Trump veröffentlicht, da erscheint auf Intakt (Vertrieb: Harmonia Mundi) ein Boxset unter dem Titel „The Age Of Carbon“ mit Aufnahmen aus den Jahren 1984 bis 1991.

Eigentlich steht der New Yorker im Ruf eines notorischen Avantgardisten. Er selbst würde diesem Prädikat wohl vehement widersprechen und das zu Recht. Als Nostalgiker kennt man ihn indes kaum. Was treibt Elliott Sharp gerade jetzt, da er Carbon reaktiviert hat, zu der umfassenden Rückschau des Boxsets?

„Die Erinnerung der Leute ist kurz, und viele Hörer von heute haben die Band von damals vergessen. Junge Musiker haben ja die Tendenz, das Rad noch einmal zu erfinden und neue Probleme mit alten Lösungen anzugehen. Das ist so weit okay, denn jeder muss seine eigene Forschung betreiben. Da mag es manchmal auch Übereinstimmungen geben. Aber für diejenigen unter uns, die an diesen Innovationen schon seit vielen Jahren arbeiten, ist das zuweilen sehr frustrierend. Daher ist es wichtig, dass diese Arbeit in einer entsprechenden Aufmachung dokumentiert ist.“

Vergleicht man die Aufnahmen vor allem der frühen Achtziger mit den gegenwärtigen Aufnahmen von Carbon und Sharps anderen Projekten, so fällt die trockene Radikalität jener Jahre ins Ohr. Damals setzte er beim Empfänger seiner Botschaft ebenso viel Forscherdrang voraus wie bei sich selbst. Heute mag er verbindlicher geworden sein und den Aspekt von anspruchsvoller Unterhaltung mehr verinnerlicht haben, und doch spürt er zwischen den alten und neuen Aufnahmen ein hohes Maß von Kontinuität.

„Ich fühle, dass meine heutige Arbeit immer noch ein Teil dessen ist, was ich damals gemacht habe. Vielleicht beurteile ich bestimmte Details heute anders. Ich bin sehr selbstkritisch und würde manche Dinge jetzt sicher anders umsetzen. Andere Dinge würde ich gern noch ein wenig tiefer erforschen. Aber diese Musik hat mich den größten Teil meines Lebens begleitet.“

Mit Carbon, das wird auf dieser Retrospektive sehr deutlich, hat Sharp in mehrfacher Hinsicht Geschichte geschrieben. Er führte völlig neue Kompositionsprinzipien ein. Vor allem mit den frühen Alben der Band hat er wissenschaftliche Strukturen und Formeln in Klang übersetzt. Genau genommen kann er für sich die Erfindung des Math Rock beanspruchen, mit dem später Bands wie Helmet und Don Caballero populär wurden. Die Präzision der Kompositionen wie auch ihrer Umsetzung ist bis heute verblüffend. Doch Carbon war auch lange Zeit eine Bestandsaufnahme des Sounds von New York. Die Besetzungsliste der drei CDs ist lang. Namen wie David Linton, Samm Bennett, Lesli Dalaba, Jim Staley, Dave Hofstra, Bobby Previte, Zeena Parkins oder David Weinstein sind aus den Annalen der New Yorker Downtown-Avantgarde nicht wegzudenken. Ende der Achtziger veränderte sich die Konstitution der Band zu einem festen Quintett, in dem die strukturellen Inhalte einem gewissen sozialen Anspruch wichen.

„Anfangs war Carbon ein kompositorisches Konzept“, rekapituliert Sharp, „das ich mit verschiedenen Musikern umsetzte. Damals war es unmöglich, mit einer bestimmten Gruppe von Musikern kontinuierlich zu arbeiten. Es ging ums Überleben. Manche Musiker standen heute zur Verfügung und morgen nicht. Ich sah es als kompositorisches Werkzeug, das auf einen Kreis von Musikern übertragen werden konnte, die es um ihre eigene Sprache anreicherten. Irgendwann steigerte sich mein Interesse an der Rockwelt. Ich suchte nach einer Band, deren Musiker zumindest für eine Weile zur Verfügung stehen würden, und begann, Songs mit Texten zu schreiben. Die Formalismen und mathematischen Strukturen blieben unter der Oberfläche als kompositorische Strategien erhalten, aber sie waren nicht mehr der Hauptfokus der Band.“

Nun ist es nicht immer ganz leicht, die unterschiedlichen Ausleger von Sharps Klangwelt zu verknüpfen, vor allem, wenn sie so extrem weit auseinander liegen wie die historischen Epochen von Carbon und Sharps Auseinandersetzung mit Willie Dixon, die er jüngst auf dem Album „Electric Willie“ dokumentierte. Sein Interesse an der Musik des alten Blues-Barden reicht lang vor die Zeiten zurück, in denen er mit John Zorn und John Lurie die Sound-Guerilla von New York formierte.

„Auf Partys spielte ich immer Blues, und Willy Dixon gehörte dazu. Bei pychedelischen Jams war es ‚Spoonful‘, bei Straight-Ahead-Bluesprogrammen eher ‚Wang Dang Doodle‘. Als ich mich entschloss, auch professionell Blues zu spielen, stand Willie Dixon ganz oben auf der Liste. Mit Henry Kaiser hatte ich schon lange über ein Dixon-Projekt nachgedacht. Mit Sängern wie Eric Mingus und Queen Esther macht diese Idee nun umso mehr Sinn.“

Für Elliott Sharp ist es von Carbon zu Dixon nur ein kleiner Schritt, denn es geht ihm in jedem Fall um die Vokalisierung von Sound. Ob Fibonacci-Reihe oder ein Blues-Standard von Willie Dixon – sein Ziel ist immer die Transformation von einem bekannten in einen unbekannten Zustand.

Text
Wolf Kampmann

Veröffentlicht am unter 88, Feature, Heft

Deutscher Jazzpreis 2025