Wayne Shorter
Im Gespräch mit Wolf Kampmann 2022
Anlässlich der Nachricht vom Tod Wayne Shorters veröffentlichen wir hier noch einmal Wolf Kampmanns komplettes Feature aus Ausgabe 145 von September/Oktober 2022. Kampmann telefonierte mit Shorter im Juli 2022. Arne Reimers Fotos sind 2016 in Berlin entstanden.
Kein Bandleader mehr
Mit Worthülsen wie „lebende Legende“ geht man besser sparsam um. Auf den Saxofonisten Wayne Shorter trifft sie jedoch ohne Einschränkungen zu. Er gehört zu den ganz wenigen Protagonisten des Jazz, die seit den 1950er-Jahren durchgehend aktiv sind. Mit seinem neuen Album „Live At The Detroit Jazz Festival“ (Candid/Import) mit Terri Lyne Carrington, Leo Genovese und Esperanza Spalding setzt der 88-Jährige erneut ein Achtungszeichen.
Er war der Artistic Director von Art Blakey’s Jazz Messengers, gehörte von 1964 bis 1970 verschiedenen Konstellationen von Miles Davis an und leitete ab 1970 16 Jahre lang mit Joe Zawinul die Fusion-Band Weather Report. Seine eigenen Alben auf Blue Note aus den 1960er-Jahren setzten einen unerreichten Standard. Seit über zwanzig Jahren ist er nun im Quartett mit Danilo Perez, John Patitucci und Brian Blade unterwegs, die ihm auch immer dann ein spektakuläres Sicherheitsnetz spannen, wenn der Altmeister mal schwächelt. Doch seit Jahrzehnten war er nicht mehr so stark und fokussiert zu hören wie auf „Live At The Detroit Jazz Festival“, einer Live-Aufnahme von 2017.
Ohne jede Strategie oder Intention
Zu der Begegnung mit Terri Lyne Carrington, Esperanza Spalding und Leo Genovese kam es ganz spontan. „Wir waren in Detroit“, erinnert sich Shorter, der sonst gern mal über Aliens schwadroniert, ungewohnt aufgeräumt.
„Terri, Esperanza und Leonardo sollten dort auftreten. Irgendjemand sagte, es wäre schön, wenn du mit ihnen zusammenspielen würdest. Und das taten wir. Wir verabredeten ein paar Songs, hatten aber keine Zeit zu proben. Das heißt, wir trugen die Stücke, wohin immer wir wollten. Wir mussten nichts beweisen und keinerlei Erwartungen erfüllen, sondern konnten unserer Imagination freien Lauf lassen. Ich dachte überhaupt nicht über eine Platte nach, aber als ich nach Hause kam, erreichten mich etwa 30 Anrufe, ich solle doch ein Album daraus machen. Das war eine Platte ohne jede Strategie oder Intention.“
Es sollte noch einmal fünf Jahre dauern, bis der Mitschnitt endlich herauskommt. Doch Zeiträume spielen für den Saxofonisten schon lange keine Rolle mehr. Auch Altersunterschiede sind ihm schnuppe. Er habe sich mit seinen drei jungen Kompagnons in einem Mindset befunden, als seien sie allesamt Kleinkinder, schwärmt er. Er habe immer nach jungen Menschen Ausschau gehalten, die diese Musik für ihre Generation repräsentieren. „Über dieses Thema habe ich schon 1959 mit Lee Morgan geredet“, rekapituliert der Saxofonist.
„Wir sagten uns damals: Lass uns so viele Takes wie möglich aufnehmen, denn in 20 Jahren wird es keinen Jazz mehr geben. Wir müssen tun, was wir können, um so viel von dieser Musik wie möglich zu hinterlassen. Leo und Esperanza sind erst 20 bzw. 25 Jahre später geboren worden, aber beide haben ihre eigene Philosophie entfaltet. Ihre Neugier hat extrem viel mit Leben und Freiheit zu tun. Sie wie auch Terri Lyne stehen mit beiden Beinen in der Gegenwart und prägen den Jazz von heute.“
Diese Bereitschaft, sich spontan auf diese Formation einzulassen, sich nicht als Pate aufzuspielen und einfach sein Ding durchzuziehen, ist verblüffend. Shorter klingt in dieser Band viel jünger als gewohnt. Er weiß sich zurückzuhalten, spielt nur, wenn er wirklich einen Beitrag leisten kann, ist dafür aber umso prägnanter und tatsächlich von einer jugendlich anmutenden Neugier angetrieben. Das ist für einen Angehörigen seiner Generation durchaus erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Shorter in einer völlig anderen Umgebung aufgewachsen ist. Frauen waren in den Jahren, in denen der Saxofonist seine besten Alben aufgenommen hat, bestenfalls Nebenfiguren im Jazz, viele von ihnen mit einer tragisch endenden Laufbahn. Jetzt spielt er auf seine alten Tage in einem Quartett mit zwei wesentlich jüngeren Frauen. Doch nach eigenen Worten war Shorter nie ein Anhänger des Machismo im Jazz.
„Ich hatte schon immer Kontakt zu Jazzmusikerinnen. Das fing an mit Marjorie Hyams, der Vibrafonistin von George Shearing (die von ihrem Ehemann, dem Trompeter Rolf Ericson, gezwungen wurde, mit der Musik aufzuhören, Anm. d. Aut.). Sie hatte einen sehr perkussiven Sound. Slide Hampton hatte eine Schwester, die Schlagzeug spielte. Sie trat mit einer Stola und High Heels auf und wirkte auf den ersten Blick wie ein Model. Aber wenn man die Augen schloss, dachte man, es wäre Philly Joe Jones. Sie spielte oft mit der Bassistin Gloria Bell, der späteren Ehefrau von George Coleman. Gloria Bell organisierte Jam Sessions in einem Club namens Carney’s in Harlem. Wir alle rannten dorthin, weil wir mit ihr jammen wollten. So war das damals in New York. Ich vermisse diese Zeit.“
Jazzgeschichte im Hier und Jetzt
Shorter hat unzählige Storys über die „guten alten“ Zeiten auf Lager, die er bereitwillig zum Besten gibt. Er selbst ist die wandelnde Jazzgeschichte, und doch genießt er es, im Hier und Jetzt zu leben. Von einem Bedürfnis nach Ruhestand keine Spur.
„Ich bewundere den Spirit dieser jungen Musikerinnen und Musiker. Egal, was sich ihnen in den Weg stellt: Sie sind weiter kreativ und geben nicht auf. Im Gegensatz zu uns haben sie aufgehört, ihre Vorgänger zu kopieren. Sie kopieren weder Miles Davis noch John Coltrane oder Sonny Rollins. Sie denken darüber nach, wie sie ihre eigenen kreativen Qualitäten erweitern können. Sie brechen aus den Jazzclubs aus und finden ihre eigenen Orte, an denen sie ihre Musik zu ihrem Publikum tragen können. Wir können von den jungen Leuten lernen, dass sie einfordern, was sie brauchen.“
Wie „Live At The Detroit Jazz Festival“ unüberhörbar demonstriert, gelingt es auch Wayne Shorter, sich von allen Imitationen vor allem seiner eigenen reichhaltigen Vergangenheit zu befreien. Mit dem Mut eines Anfängers überrascht er auf dem Album nach einer mehr als sechs Jahrzehnte andauernden Laufbahn mit einer völlig neuen Spielhaltung. Worin besteht also seine Geheimformel? Der Oldtimer grinst verstohlen in sich hinein wie ein Junge, den man mit der Hand im Bonbonglas erwischt hat.
„Du musst einfach offen bleiben. Die Leute, mit denen du spielst, brauchen keine Version der Vergangenheit. Für die ist es ganz uninteressant, mit wem ich einst gespielt habe. Sie stehen heute mit mir auf der Bühne. Dem muss ich Rechnung tragen. Es kommt darauf an zuzuhören, was sie zu sagen haben, und sich nicht als Bandleader zu gerieren. Der Bandleader ist schon vor vielen Jahren durchs Fenster entflogen. Ich bin kein Bandleader mehr! Damit ist viel zu viel Ego, Zwang und Druck verbunden. Habe ich nur deshalb mehr zu sagen, weil ich mehr Erfahrung habe? Nein, nein, nein! Wir alle verlassen gemeinsam die Wiege. Menschliche Qualitäten haben nichts mit Alter zu tun. Sie kommen aus der Seele und dem Herzen.“