Im Kreis der Familie

Pit HuberWeihnachten. Na, wir haben es ja gerade wieder erlebt. Ich kann euch sagen: Früher war das anders. Da wurden im Dezember die Tage dunkler und die Lichter heller, alles strebte mit Macht auf Weihnachten hin, dann gab’s die Geschenke und Umtauschaktionen und danach hatte man wieder den Kopf frei. Heute fangen sie schon Ende September an, die Weihnachtsware in die Regale zu drücken. Ab Oktober wird hektisch geshoppt, im November dröhnen die Christmas Songs aus allen Lautsprechern… und der letzte Weihnachtsschmuck auf den Straßen und Balkonen verschwindet endlich im April. Nur von Mai bis August, die Monate ohne „r“, ist noch weihnachtsfreie Zeit. Vier Monate im Jahr.
 
Weihnachtslieder finde ich ganz schrecklich. Verjazzte Weihnachtslieder eher noch schrecklicher. Trotzdem werden jedes Jahr wieder neue Christmas-Jazz-CDs veröffentlicht, warum eigentlich? Unter der Nordmanntanne will sie ja doch keiner hören, im Sommer ebenso wenig. Aber sie gehören dennoch dazu, denn Weihnachten ist ein Familienfest und wir Jazzer sind doch auch alle eine große Familie. Die Jazzgemeinde eben.
 
Der familiäre Zusammenhalt ist etwas ganz Wichtiges im Jazz. Man denke nur an die Familie Marsalis oder die Familie Schuller, an Vater und Sohn Freeman, Vater und Sohn Coltrane, Vater und Sohn Redman, dann die Jones-Brüder, die Heath-Brüder, die Mangelsdorff-Brüder, all diese Jazz-Sippschaften. Die Tochter von Charlie Parker: Natürlich wurde sie Jazzsängerin. Die Tochter von Dizzy Gillespie: Jazzsängerin. Der Sohn von Thelonious Monk: Jazzdrummer. It runs in the family. Oder kennt ihr Monday Michiru? Das ist die Tochter des Jazzsaxofonisten Charlie Mariano und der Jazzpianistin Toshiko Akiyoshi, obendrein verheiratet mit dem Jazztrompeter Alex Sipiagin. Und natürlich ist sie Jazzsängerin. Überhaupt: Jazzmusiker-Ehen, auch so ein Thema. Man heiratet grundsätzlich innerhalb der Gemeinde. Phil Woods hat nicht nur Charlie Parkers Saxofon adoptiert, sondern auch gleich seine Kinder.
 
Das kennt man ja schon lange: Im Jazz sind alle verwandt, jeder kommt immer von irgendeinem anderen her, von Lester Young oder Bud Powell oder Charlie Christian. Da gibt es Schulen und Einflüsse und Richtungen und Stammbäume, eine ganz seltsame ungeschlechtliche Fortpflanzung über die Generationen hinweg. Miles Evans zum Beispiel ist der Sohn von Gil Evans und Miles Davis. Und natürlich ist Miles Evans Jazzmusiker. Und Eric Mingus, der Sohn von Charles Mingus und selbstverständlich Jazzmusiker, heißt eigentlich Eric Dolphy Mingus. Nur Count Davis ist nicht etwa eine Kreuzung aus Count Basie und Miles Davis, sondern der Name eines Jazzclubs in Linz.
 
Familientradition ist alles im Jazz. Man kann ja kein Interview mehr lesen ohne Sätze wie diese: „Schon als Jugendlicher fragte ich mich: Wer bist du? Woher kommst du?“ Klar, wir alle waren jung und haben uns das mal gefragt, meist nach einer durchzechten Nacht oder einem schönen bewusstseinserweiternden Erlebnis. Aber im Jazz: Eine Generation von Musikern sucht da immer nur nach ihrer Vergangenheit. Die Journalisten schreiben dann von „Roots“ und „Americana“ und „Wurzelbehandlung“. Logisch, die Wurzeln tun weh, deshalb behandelt man sie ja. Raus mit dem Nerv! Mich interessieren frische Knospen, Blüten, Früchte, Düfte – nicht die alten, verrotteten Wurzeln.
 
Wahrscheinlich hattet ihr an der Weihnachtstafel auch wieder euren Opa sitzen. Ist ja Familie, man muss die Alten ehren, so stinkig sie manchmal sind. In allen Traditionskulturen gilt der Geist der Ahnen viel. Jeden Montag, wenn Les Paul im Iridium auftritt, schickt ein Jazzbüro E-Mails rund um die Welt. Denn Les Paul ist jetzt 93. Kürzlich wurden in New York auch wieder eine Reihe 90-jähriger Jazzmusiker geehrt, die Preise überreichten 85-Jährige. In 20 Jahren, wenn die Menschen noch etwas älter werden, sitzen womöglich nur noch Hundertjährige auf der Bühne. Und die jungen Musiker im Publikum rufen dann glücklich aus: „Das sind meine Wurzeln! Da komme ich her!“
 
Das war nicht immer so. Stan Getz soll Louis Armstrong mal als „schlechten Dixieland“ bezeichnet haben. Überhaupt nannten sie die Traditionalisten in den Fünfzigern „verschimmelte Feigen“. Da fällt mir ein: Vielleicht muss man den Brauch des Weihnachtsbaums ja ganz anders verstehen. Die Wurzeln abhacken und die Zweige mit frischen Früchten schmücken, mit Orangen und Nüssen! Sollte sich der Jazz echt mal zum Vorbild nehmen.
 
Pit Huber

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