RIP: Carla Bley
Sie sei eine der wichtigen Wegbereiterinnen des Jazz gewesen, so die Saxofonistin Ingrid Laubrock zum Tod von Carla Bley. Terri Lyne Carrington, Gründerin des Instituts für „Jazz And Gender Justice“ am Berklee Institute in Boston, würdigte Bleys unkonventionelle Herangehensweise an diese Kunstform und nennt sie eine Inspiration. Carrington hatte Bley vor zwei Jahren auch gebeten, eine ihrer Kompositionen für ihre Anthologie „New Standards. 101 Lead Sheets Of Women Composers“ zur Verfügung zu stellen. Bley wählte dafür mit „Lawns“ ein Liebeslied für ihren langjährigen Lebenspartner, dem Bassisten Steve Swallow, von ihrem 1987 erschienenen Album „Sextet“ aus.
Es sind diese wunderschönen Melodien, die in Erinnerung bleiben. Wie zum Beispiel auch „Ida Lupino“, das beispielsweise die große Free-Jazz-Pianistin Irène Schweizer immer wieder variierte – und für die Bley eine ihrer größten Einflüsse war. Doch bleibt eine der schönsten Einspielungen von „Ida Lupino“ die vom Soloalbum „Open, To Love“ ihres ersten Ehemannes, dem Pianisten Paul Bley. Die beiden lernten sich Mitte der 1950er-Jahre in New York im Jazzclub Birdland kennen, wo Carla als Zigarettenmädchen jobbte, nachdem die 1936 in Oakland bei San Francisco als Lovella May Borg geborene Komponistin mit 17 Jahren ihr streng religiöses Elternhaus verlassen hatte, wo sie schon als Kind in der Kirche ihres Vaters Orgel spielen, komponieren und arrangieren gelernt hatte. Sie war quer über den Kontinent nach New York getrampt war, um in eine neu gewonnene Freiheit einzutauchen – und um den Jazz zu entdecken.
Paul und Carla heirateten 1957 in Los Angeles, wo er mit seinem Quintett auftrat, über das Ornette Coleman später sagte, es sei immer sehr einfach gewesen zu wissen, wo es gespielt hätte, denn das Publikum habe immer fluchtartig den Raum verlassen. Geprägt von diesen Einflüssen und auch Beboppern wie Thelonious Monk oder Charles Mingus, mit denen Bley befreundet war, entwickelte Carla ihre Musik und verarbeitete in dieser amerikanische Geschichte und Gegenwart, besonders die Todesstrafe oder die amerikanische Kriegspolitik und deren Folgen.
1971 erschien ihre Avantgarde-Oper „Escalator Over The Hill“, ein sich über 6 LP-Seiten erstreckendes Kunstwerk aus Jazz, Neuer Musik, Rockelementen und indischer Perkussion, das zwischen 1968 und 1971 in New York aufgenommen worden war. Bley hatte als Libretto surreale, dadaistische Texte des kanadisch-amerikanischen Dichters Paul Haines über ein Zusammentreffen verschiedenster Figuren und Dinge in einem fiktiven Hotel in Indien vertont – darunter Bley selbst als „Mutantin“, Don Cherry als „Sandhirte“, Sheila Jordan als „Gebrauchte Frau“ und Roswell Rudd als „Lautsprecher“. Auch Karl Berger, Charlie Haden und Jeanne Lee befanden sich unter der Vielzahl der Mitwirkenden – als Teil des Jazz Composer’s Orchestra, das sie 1965 mit ihrem zweiten Ehemann, dem Trompeter Michael Mantler, gegründet hatte.
Zu diesem Zeitpunkt gehörte Bley bereits zu den einflussreichsten Mitgestalterinnen der musikalischen Avantgarde der 1960er-Jahre. Um sich von der Musikindustrie unabhängig zu machen und auch einer nicht-kommerziellen Musik eigene Vertriebswege und Förderung zu ermöglichen, war sie Mitgründerin der Jazz Composer’s Guild, einem genossenschaftlichen Zusammenschluss von Komponist/-innen für die Selbstverwaltung ihrer Musik. Gemeinsam mit Mantler gründete sie das Plattenlabel JCOA und später, für ihre eigenen Aufnahmen, Watt Records. Trotzdem begegnete ihr immer wieder Misogynie, gerade auch unter Musikerkollegen – wie etwa bei Sun Ra, der nicht akzeptieren wollte, dass auch Frauen Mitglieder der Guild waren. Für Peter Brötzmann und Peter Kowald war sie dagegen in dieser Zeit ein wichtiges Vorbild, mit dem sie auch 1966 in Europa zusammen tourten.
Ab 1969 arbeitete Bley als Dirigentin und Arrangeurin des Liberation Music Orchestra von Charlie Haden, das sich kritisch mit der Politik der USA auseinandersetzte: vom Vietnamkrieg und den südamerikanischen Befreiungsbewegungen bis hin zum Irakkrieg. Dies tat Bley auch auf ihren eigenen Aufnahmen mit ihren großorchestralen und kleinformatigen Ensembles. 2020 erschien Bleys letztes, im Trio mit Swallow und dem britischen Saxofonisten Andy Sheppard aufgenommenes Album „Life Goes On“ (ECM/Universal).
2018 wurde bei ihr ein Hirntumor diagnostiziert. Am 17. Oktober ist Carla Bley in ihrem Haus in Willow, etwa zwei Stunden nördlich von New York, an den Folgen gestorben, sie wurde 87 Jahre alt. Sie wird in Erinnerung bleiben als die unangepasste, schöpferische und brillante Künstlerin, die sie während ihrer 65-jährigen Bühnenpräsenz stets war. Auch mit ihrer markanten Frisur des sie wie schützend umgebenden Pagenkopfes, meist in schwarz gekleidet, ist sie eine Ikone: schön, stolz und bis zuletzt an die gesellschaftsverändernde Kraft der Musik glaubend.
Weiterführende Links
WATT Records