Das Jahr des Jazz
2009 ist ein Jahr des Jazz, merke ich gerade. Wir feiern nicht nur 100 Jahre Benny Goodman, 70 Jahre Blue Note, 50 Jahre „Kind Of Blue“, jetzt hat die EU sogar dezidiert das Jahr der Kreativität und Innovation ausgerufen. „Kreatives Denken und die Fähigkeit, innovative Lösungsansätze zu entwickeln, sind grundlegende Kompetenzen. Täglich stehen wir vor neuen Herausforderungen – im Privatleben, im Job, in der Ausbildung, im eigenen Unternehmen oder auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene.“ Und täglich lehrt uns ja der Jazz, wie man solche Herausforderungen meistert: durch Flexibilität und Improvisation. Jazz – das Symbol für Erfolg in unserer Zeit.
In den USA gibt es Kreativitätsförderung übrigens schon länger. Zum Beispiel in der Form der MacArthur Fellowship, eines Stipendiums in Höhe von 500.000 Dollar an Menschen, die in ihrem Tätigkeitsfeld für die Zukunft Großes versprechen. Der Preis sei eine Investition in ihre Originalität und ihr Potential, heißt es offiziell. Der erste Musiker, der diesen Preis zur Förderung seiner künstlerischen Zukunft erhielt, war dann der damals 70-jährige Komponist Conlon Nancarrow. Sein Kollege Milton Babbitt folgte vier Jahre später, ebenfalls 70-jährig. Nun ja, sie haben das System der Töne nicht mehr neu erfunden. Aber Babbitt zumindest hat die halbe Million offenbar in guter Medizin angelegt. Er wird dieses Jahr 93.
Nachdem man auch alle Physiker und Mathematiker versorgt hatte, die bei den Nobelpreisen übersehen wurden, hat die MacArthur Foundation schließlich den Jazz entdeckt. Da gibt es ja nun immer genug junge Talente mit großem Zukunftspotential. Die Wahl fiel auf Max Roach (damals 66), George Russell (ebenfalls 66), Cecil Taylor (62), Ornette Coleman (63). Im Volksmund heißt der Preis übrigens „Genius Award“, Genie-Auszeichnung. Das trifft es wohl besser als „Fellowship“, Forschungsstipendium. Jedenfalls wurde Ornettes Musiktheoriebuch – angekündigt seit 1963 – auch in den 15 Jahren seit der Preisverleihung nicht fertig. Schlaue Menschen haben inzwischen die Frage aufgeworfen, ob eine halbe Million Dollar im Voraus wirklich die richtige Motivation sei, um große kreative Leistungen zu ernten.
Bei uns hat man daraus gelernt und ein ganz anderes Kreativitätsförderungskonzept entwickelt, das auch gar nicht als solches deklariert wurde. Es heißt Hartz IV. Seit der Einführung der Arbeitslosenhilfe unter Sozialhilfe-Niveau ist in Deutschland ein enormer kreativer Schub zu verzeichnen. Viele Langzeitarbeitslose, sozial Gestrandete und Jugendliche mit beruflichen Startschwierigkeiten sagen heute: „Dank Hartz IV habe ich die Musik entdeckt. Hier finde ich soziale Anerkennung, geistige Abwechslung, eine nette Gemeinschaft und werde gelegentlich auf ein Bier eingeladen.“ Seit Hartz IV ist die Kulturlandschaft in Deutschland wieder spannend.
Eines von vielen Beispielen: das Hartz IV Orchester aus München, eine fulminante Swing-Bigband, die lebensfrohe Songs wie „Mack The Knife“ und „Route 66″ im Programm hat. Seine Bandmitglieder rekrutiert das Orchester übers städtische Sozialreferat. Die Website www.H4Or.ch verspricht Zutritt für Menschen sämtlicher Geschlechter: „Auch Behinderungen oder sonstige Abnormalitäten sind kein Hinderungsgrund.“ Am liebsten tritt das Hartz IV Orchester übrigens in Tiefgaragen auf („Der Reinigungsaufwand ist gering“) oder bei Kundgebungen zum „Tag der Arbeit“ am 1. Mai. Hier bestätigt sich einmal mehr: Kreatives Denken und die Fähigkeit, innovative Lösungsansätze zu entwickeln, sind grundlegende Kompetenzen. Jazz ist ein Symbol für Erfolg in unserer Zeit. Es wird ganz sicher ein Jahr des Jazz.
Pit Huber