RIP: Irène Schweizer
Ihre Duette mit Schlagzeugern aus Afrika, Europa und den USA sind legendär. Schon früh in ihrer Karriere hat sich die 1941 im schweizerischen Schaffhausen geborene Pianistin Irène Schweizer darauf eingelassen, mit Klavier und Drumset eine frei improvisierte Musik zu spielen. Zum ersten Mal stürzte sie sich in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre mit ihrem Landsmann, dem Schlagzeuger Pierre Favre, in dieses Abenteuer. Vielleicht lag ihr Interesse am Drumset daran, dass sie sich als junges Mädchen in der elterlichen Wirtschaft in Schaffhausen nicht nur ans Klavier, sondern gerne auch ans Schlagzeug setzte, um es, wie das Piano auch, autodidaktisch zu spielen und zu lernen.
Jedenfalls zeigte Schweizer in diesen Duetten Eigenschaften, die sie als Mensch und Musikerin kennzeichnen sollten: ein dem musikalischen Partner Zugewandtes, nicht von der Musik Ablassendes und stets zu verarbeiten Versuchendes ließen ihre Duos jedes Mal Ereignisse werden. Die Rhythmen und Grooves, das flirrende Pulsieren haben ihre oft sperrigen Tonkaskaden und Cluster aufgebrochen und dem Publikum überhaupt zugänglich gemacht. In den Jahren zwischen 1986 und 1996 veröffentlichte sie dann fünf stilbildende Piano-Drums-Platten: mit dem Südafrikaner Louis Moholo, dem Deutschen Günter Baby Sommer, dem US-Amerikaner Andrew Cyrille, dem Holländer Han Bennink und natürlich ihrem Landsmann Favre. Ihr letztes Album 2021 war dann fast schon zwangsläufig ein Duo mit einem Schlagzeuger: das mit Hamid Drake eingespielte „Celebration“.
Den intuitiven Ansatz des autodidaktischen Lernens behielt Schweizer stets bei. Als Pianistin aus der Schweiz würdigte sie so das afroamerikanische Erbe des Jazz und konnte ihn als europäische Improvisationsmusik weiterentwickeln. Drei Erfahrungen sollten Schweizer auch noch prägen. 1966 hörte sie Cecil Taylor zum ersten Mal live, der ihr mit diesem Konzert zeigte, was auf den 88 Tasten alles möglich ist. Im gleichen Jahr sah sie den Bebop-Revoluzzer Thelonious Monk und war fasziniert von der melodischen Brillanz des schwarzen Jazz aus den USA. Und sie erlebte in dieser Zeit den jumpenden Cape Jazz der südafrikanischen Expats um Dollar Brand (aka Abdullah Ibrahim), Luis Moholo und Johnny Dyani im Zürcher Jazzcafé Africana, den sie sofort in ihr eigenes Repertoire spielerischer Ausdrucksmöglichkeiten zu integrieren wusste.
Noch etwas anderes sollte für Schweizer als Mensch und Musikerin prägend sein: Nachdem sie in kürzester Zeit vom Dixieland über Modern Jazz Mitte der 1960er in den Nukleus der europäischen Free-Jazz-Revolte geraten war, ist sie in diesem Männerclub lange Zeit die einzige Frau geblieben. Natürlich spielte sie mit ihren Kollegen zusammen und nahm für das von Männern dominierte FMP Records mit „Wilde Señoritas“ 1977 und „Hexensabbat“ 1978 ihre ersten, unbegleiteten Klaviersolo-Platten auf. Die Erlebnisse aber, die Schweizer in dieser Männerrunde gemacht hatte, waren sicherlich auch ein Grund dafür, dass sie sich schon früh in der Frauenbewegung engagierte und offen als lesbische Frau lebte.
Ihrer Kunstfertigkeit, Virtuosität und ihres artifiziellen Anspruchs zum Trotz: Neben den vielen Alben, die sie mit verschiedenen Besetzungsgrößen unter eigenem Namen aufnahm, und den zahllosen Konzerten, die sie jahrzehntelang weltweit spielte, war Schweizer stets auch eine politische Musikerin – und vice versa. Mit der 1977 von ihr mitgegründeten Feminist Improvising Group persiflierte sie das Macho-Gehabe ihrer männlichen Kollegen und konterkarierte die gesellschaftlichen Erwartungen an sie als Frau. Zudem war sie 1984 Mitgründerin von Intakt Records, brachte später das Zürcher Festival Taktlos auf den Weg und ließ sich 2007 als Kandidatin für die Schweizer Nationalratswahlen aufstellen. Zwar wurde die Pianistin schon 1990 mit dem Kulturpreis ihrer Geburtsstadt Schaffhausen ausgezeichnet, doch erst spät wurde ihr national die Aufmerksamkeit zuteil, die ihr schon längst zugestanden hätte, als sie 2018 den Kulturpreis des Kantons Zürich und den renommierten Schweizer Grand Prix Musik erhielt. Aus gesundheitlichen Gründen beendete sie mit ihrem 80. Geburtstag 2021 ihre aktive Laufbahn. Am 16. Juli ist Irène Schweizer nach längerer Krankheit 83-jährig in Zürich gestorben.
Weiterführende Links
Irène Schweizer auf Intakt