Ach, Musiker!
Früher war das eine klare Sache. Jazzmusiker galten als drogensüchtig, promisk und unzuverlässig. Man machte sie besser nicht mit der eigenen Freundin bekannt und lieh ihnen keinesfalls das Auto. Wenn man sie um acht treffen wollte, verabredete man sich am besten für sieben. Sie brauchten immer Geld, denn die Gage vom Vorabend war längst weg, das Saxofon lag bereits im Pfandhaus und angeblich gab der ungeduldige Vermieter mal wieder keine Ruhe. Immer, wenn man sie traf, wollten sie gerade mit dem Saufen, Spritzen, Huren oder was auch immer aufhören, gleich am nächsten Tag. Meistens schliefen sie in ihren Straßenklamotten bis zum Nachmittag, verschlampten ihre Plattenverträge und redeten wirres Zeug über Weltverschwörungen und UFO-Geheimnisse. Manchmal zündeten sie auch ihr Hotelzimmer an, liefen nackt auf die Straße oder brachen auf der Bühne stoned zusammen.
Wenn Charlie Parker mal wieder mit glasigen Augen und im zerknitterten geliehenen Anzug 30 Minuten zu spät zur Probe erschien, nahm er den Rüffel des Bandleaders wie eine Ordensverleihung entgegen. „Was willst du?“, soll Parker manchmal geantwortet haben. „Willst du, dass ich aussehe und mich benehme wie ein Bankangestellter? Und dass ich auch so spiele wie ein Bankangestellter?“ Die schwere Berufung zum Jazzgenie hat eben ihren Preis: Diese Musik braucht den ganzen Menschen, da bleibt kein Platz für Tugend und Ordnung. Man musste Charlie dennoch mögen.
Heute ist das ganz anders. Jazzmusiker gründen früh eine Familie, schließen eine Hausratversicherung ab und sparen aufs Eigenheim. Sie wechseln täglich die Wäsche, grüßen ihre Nachbarn und helfen der alten Frau Meier beim Tragen. Man kann sich mit ihnen auch prima über Digitalkameras oder LCD-Bildschirme unterhalten, ebenso über Autos, Fußball und die Deutsche Telekom. Zum Interview erscheinen sie immer fünf Minuten zu früh, ausgeschlafen und frisch rasiert, und bestellen sich einen Cappuccino mit einem Glas Wasser. Sogar der Desktop ihres Laptops ist picobello aufgeräumt, gleich links oben kann man das Kindergeburtstags-Video des Juniors anklicken. Ihre Konzerttermine wissen sie auswendig, auch ihre Kreditkartennummer. Sie benehmen sich wie selbstzufriedene Bankangestellte und spielen oft auch so.
Aber es gibt Hoffnung. Vor kurzem erzählte mir ein Agent, eine seiner Musikerinnen hätte ihn mitten in der Nacht aus Bogotá angerufen, wo sie „mit Goethe“ gastierte. „Du, das ist total cool hier“ – sie war vor lauter Hintergrundlärm kaum zu verstehen –, „geile Sache, du, wir sind hier auf ‚ner absolut abgefahrenen Party, hab‘ tolle Leute kennengelernt, aber weißt du, ich brauch‘ noch 20 CDs bis morgen, hab‘ keine mehr fürs Konzert, machst du das?“ Der Agent versuchte seiner Künstlerin zu erklären, dass man 20 CDs nicht über Nacht nach Bogotá schicken kann, es sei denn zu einem Preis, der den Erlös der CDs bei weitem übersteigt. „Das schaffst du schon“, schrie die Musikerin noch, „du, mein Akku ist gleich leer, ich verlass‘ mich auf dich…“ Dann brach die Verbindung ab.
Ein namhafter Klavierspieler, erzählte der Agent weiter, habe ihn letztes Jahr ständig damit genervt, dass ihm seine Plattenfirma die fälligen Tantiemen nicht überweise. „Kümmer dich doch mal drum, ja? Ich hab’s dir doch schon mal gesagt, erinnerst du dich? Weißt du, die schicken mir da immer so Computerausdrucke, da sind immer Stückzahlen ausgewiesen, da müssten schon einige Euro zusammengekommen sein, vielleicht haben sie die falsche Kontonummer von mir, könnte ja sein. Also, wenn ich da anruf‘, krieg‘ ich immer nur so ’ne Tussi ans Telefon, die sagt, sie wird sich schlau machen, aber dann passiert wieder nix, vielleicht kannst du doch mal bei denen vorbeigehen, das ist ja nicht so weit von Köln…“ Der Agent ist dann tatsächlich hingefahren, hat sich die gespeicherte Kontonummer zeigen lassen – es war die richtige – , dann die Verkaufs-Abrechnungen – auf ihnen stand: „Auszahlung: null “ –, dann den CD-Vertrag – „Voll bezahlt. Tantiemen fallen nicht an.“ Dann fuhr er wieder heim nach Köln.
Und dann erzählte er mir noch von der Band, die um 17 Uhr zum Soundcheck in Castrop-Rauxel sein sollte. Kurz vor 17 Uhr riefen sie noch an: „Also, wir fahren jetzt los, wir sind so gegen sieben dort, das reicht ja dann auch noch, Tim musste seine Tochter schnell zur Ballettstunde bringen und Sabrinas Bluse war in der Reinigung noch nicht fertig.“ – „Spinnt ihr jetzt?“, rief der Agent in den Hörer. „Ihr wisst, der Flügel muss nach dem Soundcheck noch mal gestimmt werden, und um halb acht ist schon Einlass! Wie soll das denn gehen?“ – „Dir wird sicher was einfallen, sag denen einfach, es war ein Unfall auf der A45 und die Bundesstraße war auch völlig verstopft…“ Es war dann wirklich ein Unfall auf der A45, auch die Bundesstraße war dicht und das Konzert konnte endlich gegen halb zehn anfangen. Die schwere Berufung zum Jazzgenie hat eben ihren Preis. Diese Musik braucht manchmal noch immer den ganzen Menschen.
Pit Huber
hat wahrscheinlich was mit „angst“ zu tun: http://www.youtube.com/watch?v=wscZhvj_lH4