Wo steht der Jazz?
Wo steht der Jazz? Eine Frage, an deren Beantwortung sich mittlerweile die gefühlt siebte Generation von Geisteswissenschaftlern, Kritikern und Schlaubergern abarbeitet, seit er (der Jazz) damals die Philharmonie betreten hat und danach irgendwie nie so richtig wieder aufgetaucht ist. Dass die Antwort auf diese Frage nun ausgerechnet von einer Gummifirma aus einer rheinischen Mittelstadt kommt, muss überraschen, zumal sie (die Antwort) auch noch erstaunlich klar und unmissverständlich ausfällt:
15:30 Cheerleader
16:00 Jazz
16:15 Zauberer
17:00 Bläck Fööß.
So sieht es das Programm einer Filialeröffnungsparty, auf groß und unübersehbar eigens an den Ortseingängen errichteten Wänden der Welt mitgeteilt, und es besticht durch seine kulturphilosophische Stringenz.
Konsens dürfte herrschen darüber, dass die Bedeutung eines Auftritts sich reziprok zu seiner Position in der Reihung, in der Regel aber proportional zu seiner Länge verhält, und gerade hier wird eine frappante Weitsicht evident: Der Jazz wertet vor den Cheerleadern, aber hinter dem Zauberer und weit hinter den Bläck Fööß, bei denen, für nicht Eingeweihte, es sich um eine namhafte Mundartgruppe aus Köln (von ihnen selbst liebevoll »Kölle« genannt) handelt. Cheerleader, auch das muss man nicht wissen, sind knapp kostümierte, meist weibliche Teenagerturnriegen, die am Rande von Sportveranstaltungen Leibesübungen vorführen, deren Sinn sich nur schwer erschließt, da findet sich die Brücke zum Jazz, der ja auch eine amerikanische Erfindung ist.
Aber überzeugt dieses Programm vielmehr als durch seine konzeptuelle Prägnanz nicht durch seine stilistische Reinheit, ja eine geradezu skrupulöse Unbestechlichkeit? Wie er da steht, der Jazz – rein und klar, namenlos noch, für 15 Minuten – seine 15 Minuten –, zwischen den Rätseln der amerikanischen Popkultur hier und den womöglich größeren Rätseln eines ebenfalls namenlosen und damit eine vage Bedrohung evozierenden Zauberers als Vertreter der alten, der europäischen, ja humanistischen Kultur. Hier wurde ihm (dem Jazz) sein Platz zugewiesen, der ihm gut ansteht und den er ausfüllen kann.
Und dann singen die Bläck Fööß.
O Scheiße.
Wenn das „German Jazz Meeting“ auf der „jazzahead!“ im Frühjahr in Bremen, bei dem sich 14 in Deutschland lebende Musiker mit ihren Projekten einem internationalen Fachpublikum in kurzen „Showcases“ präsentierten, eines deutlich gezeigt hat, dann, dass in nur 15 bis 20 Minuten große Konzerte gespielt werden können. Was eine solche Reduzierung auf das Wesentliche für Folgen haben könnte: So könnten zum Beispiel bei Veranstaltungen wie der zurzeit grassierenden Fußball-WM Jazz-Konzerte in den Halbzeitpausen der Spiele stattfinden. Und ganz nebenbei noch eine andere, wohl auf den ersten Blick nicht offensichtliche Konsequenz: Jazzkonzertveranstalter müssten nicht mehr über mangelnden Publikumszuspruch jammern, wenn Champions-League- oder WM-Spiele im Fernsehen übertragen werden. Was für eine Bereicherung für die hiesige Kultur- und Konzertlandschaft. Und ein Schelm, der denkt, dass dann auch weniger Geld in die Gagen investiert werden muss.
Ich finde das prima! Jazz sollte überall erklingen.
Ich fahre z.B. seit 18 Jahren zum North Sea Jazz Festival. Manchmal sitze ich da bei irgenwelchem Thai-fast-food neben dem Spiegeltent im Freien, esse, denke, rauche, trinke Apfelsaft und höre nebenbei eben aus diesem Zelt irgentwelche jungen Nachwuchscombos, deren Namen und Spiel man noch nie zuvor gehört hat und fühle mich richtig gut. Magic Moments.
Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich kurz vor dem Verlassen unserer Wohnung noch eine Marsalis-CD starte, einfach nur, weil es per se gut ist, wenn Jazz gespielt wird ;-)