Ausverkauf der Legenden

Pit HuberAlle sind sich einig: Sonny Rollins‘ neues Album ist eine Sensation. Denn erstens ist es von Sonny Rollins, zweitens ist Sonny Rollins noch am Leben, drittens ist Sonny Rollins 76 und viertens hat er ein neues Album gemacht. Aber es gibt noch mehr triftige Gründe für den besonderen Rang dieser CD. Nie zuvor nämlich klang Sonny Rollins auf einem Album so sehr wie immer. Und nie zuvor klangen seine Sidemen austauschbarer als hier. Kurzum: Kein anderer Musiker hätte heute ein neues Sonny-Rollins-Album machen können. Nur Sonny Rollins eben.
 
Und dann noch dies: Sonny Rollins ist eine lebende Legende. Eigentlich wollte der Pressetexter seines Vertriebs, sorry: der Senior Product Promotion Manager, schreiben: „Sonny Rollins ist die letzte lebende Legende des Jazz.“ Aber dann kam sein Praktikant daher, der dummerweise Jazzfan ist, und meinte frech: „Wieso die letzte? Was ist mit Horace Silver, Jim Hall, Max Roach, Dave Brubeck?“ Daraufhin schrieb der SPPM: „Die letzte lebende Saxofon-Legende des Jazz“. Da räusperte sich der Praktikant nochmals und fragte: „Und Lee Konitz? Ornette? Wayne Shorter? Jimmy Giuffre?“ Der Praktikant wurde dann beauftragt, den Mund zu halten und eine Liste aller Jazzmusiker zu erstellen, die prominent, über 70 und noch am Leben sind. Nach fünf Minuten hatte er bereits 47 Namen zusammen. Ein neues Methusalem-Komplott. Unser SPPM entschied sich schließlich für die Formulierung: „Sonny Rollins, eine der letzten lebenden Legenden des Jazz“.
 
Ich habe dennoch gestutzt. Ehrlich gesagt, hatte ich das philosophische Konzept der „letzten lebenden Legenden“ nie so richtig drauf. Letzte Legenden, das bedeutet ja wohl: Es gab schon mal mehr davon, aber die sind nicht mehr unter uns. Es bedeutet aber auch: Es kommen definitiv keine neuen hinzu, denn es sind ja die letzten. Das Zeitalter potenzieller Jazz-Legenden muss also irgendwann zu Ende gegangen sein, mit dem Geburtsjahrgang 1936 oder so. Die Noch-nicht-Siebzigjährigen, die Shepps, Hancocks, McLaughlins, Coreas, Jarretts, Breckers, Braxtons, sie haben keine Chance mehr auf einen zukünftigen Legendenstatus. Ganz zu schweigen von den 50-jährigen Jungspunden wie Cassandra Wilson, Bill Frisell, Louis Sclavis oder John Zorn. Hoffentlich überlegt sich unser SPPM bald, wie man diese Leute eines Tages nennen soll, wenn sie schon nicht Jazz-Legenden werden dürfen. Jazz-Mythen? Jazz-Heilige? Jazz-Jünger? Der Praktikant hat bestimmt einen guten Vorschlag.
 
Pit Huber

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1 Kommentar zu „Ausverkauf der Legenden“

  1. Der aktuelle Jazzthing-Titelbildheld John Legend hat es da leichter. Er ist schon jetzt „a living Legend“. ;) Das beweist: Die Legenden sterben doch nicht aus.