Dufte!
40 Jahre Enja
Nur an Matthias Winckelmann scheint die Zeit spurlos vorbeigegangen zu sein. Der Gründer von Enja Records geht auch nach 40 Jahren mit unvermindertem Enthusiasmus ans Werk, gräbt weltweit weiter nach guter Musik und plaudert herrlich enthusiastisch über seine Veröffentlichungen im Slang der 70er-Jahre. Weil vieles davon immer noch „dufte“, „frech“ und „großartig“ ist, gibt es nun in Jazz thing exklusiv einen Sampler mit 16 Highlights aus der Enja-Geschichte.
„European New Jazz“ oder kurz „Enja“: Hinter diesen Buchstaben verbirgt sich eines der vitalsten Independent-Labels des Kontinentes. Der Name könnte jedoch zu falschen Schlüssen führen. Matthias Winckelmann, der die in München ansässige Plattenfirma 1971 mit Horst Weber aus der Taufe hob, suchte nach einem kurzen, einprägsamen Begriff, der in viele Sprachen übertragbar war und eine weibliche Endung besitzen sollte. „Enja“ erfüllte all diese Voraussetzungen, die Definition wurde später nachgeschoben.
In der Tat hielten Winckelmann und Weber früher allenfalls sporadisch in der Alten Welt nach neuen Klängen Ausschau. Doch im Laufe der Zeit haben sich die Parameter merklich erweitert. Inzwischen stellt der Jazz klassischer Prägung nur mehr eine von vielen Facetten der über 700 Produktionen dar. Enja sieht es 2011 als seine Aufgabe an, die Gegenwart der modernen Musik abzubilden und den Entdeckergeist von einst ins fünfte Jahrzehnt hinüberzutransportieren.
Ein durchaus schwieriges Unterfangen, hat sich doch nicht nur der Tonträgermarkt im Laufe der Zeit radikal verändert, sondern auch die grundsätzliche Auffassung über Jazz. Als Matthias Winckelmann und Horst Weber anfingen, ließ sich die Zahl der Labels noch an einer Hand abzählen. Der Frankfurter Winckelmann studierte in München, der Aachener Weber besaß als gelernter Schneider und Konzertveranstalter gute Kontakte nach Japan. „Wir waren begeisterte Amateure ohne jede Kenntnis vom Business. Trotzdem beschlossen wir, es wenigstens mal mit einer Platte zu versuchen.“ Die hieß „Black Glory“ und stammte von dem Pianisten Mal Waldron.
Während der folgenden Jahre erwarben sich die beiden Freunde mit einem guten Gespür für den Zeitgeist, einer gesunden Portion kaufmännischem Geschick, Aufrichtigkeit und Stehvermögen einen glänzenden Ruf als verlässliche Partner. Zu den Besonderheiten von Enja gehört, dass die Gründer von 1986 an getrennte Wege gingen und sich den damaligen Katalog teilten. Keiner wollte jedoch auf den liebgewonnenen Namen verzichten. Nach Jahren der räumlichen Distanz arbeiten beide Enjas heute wieder unter einem Dach in der Münchner Frundsbergstraße. Horst Weber (79) hat die Geschäfte mittlerweile an Werner Aldinger abgegeben und lebt in Garmisch, Matthias Winckelmann (70) ist nach wie vor aktiv. Von ihm und Aldinger stammt auch die Auswahl der Enja-Jubiläums-Compilation für Jazz thing.
Allen Blairman/Peter Warren „Intro“
aus „Spontaneous“ (1971): Ein Start wie die ersten Gehversuche von Enja: wild, frei, zügellos, unbefangen, mit einem Mörder-Bassgroove von Peter Warren. „Spontaneous“ mit Drummer Allen Blairman, Posaunist Albert Mangelsdorff und Pianist Masahiko Sato spiegelt den Zeitgeist Anfang der 1970er-Jahre wider. Kompromisslose Avantgarde, aufgenommen 1971 unmittelbar nach den Berliner Jazztagen.
Bobby Jones „Bringin‘ In The Sheep“
aus „Hill Country Suite“ (1974): Ursprünglich sollte es eine Quartettaufnahme für Bobby Jones werden. Doch Pianist Roland Hanna war in einem amourösen Bermudadreieck verschollen. Winckelmann machte aus der Not eine Tugend und überredete den Tenorsaxofonisten zu einem Trio mit Bassist George Mraz und Drummer Freddie Waits. Das Resultat: eines der besten Enja-Alben aller Zeiten.
Tommy Flanagan „Maybe September“
aus „Confirmation“ (1982): Winckelmanns erklärter Lieblingspianist: „ein absoluter Klassiker!“ Die Melodie öffnet sich wie eine Blume. Elvin Jones spielt ruhige Besen, George Mraz lässt sanfte Basstropfen über den Song gleiten. Vollkommene, perfekte musikalische Schönheit.
John Scofield „Monk’s Mood“ (solo)
aus „Ivory Forest“ von Hal Galper (1979): 27 Jahre war der Gitarrenpapst alt, als er mit Hal Galper durch den Elfenbeinwald ging. Dass die Platte unter dem Namen des Pianisten erschien, hinderte John Scofield nicht daran, mit „Monk’s Mood“ ein Solostück von sechs Minuten Dauer mit versponnenen lyrischen Schleifen und faszinierender Strahlkraft zu hinterlassen, das sich als veritabler Türöffner für seine weitere Karriere erweisen sollte.
Chet Baker „My Funny Valentine“
aus „The Last Concert“ (1988): Noch heute rätseln Fachleute, warum Chet Bakers Schwanengesang ausgerechnet bei einem kleinen deutschen Label erscheinen konnte. Matthias Winckelmann befand sich in New York, als er die Nachricht von Bakers Tod erhielt, worauf er sofort nach Oklahoma zu dessen Witwe flog. Die Chemie stimmte. Über das legendäre Konzert fallen Winckelmann Unmengen von Episoden ein. Bei den Proben mit der NDR Big Band in Hannover etwa fehlte Baker. Der Portier des Funkhauses hatte ihn ausgesperrt, weil er ihn für einen Penner hielt.
Bennie Wallace „My Heart Belongs To Daddy“
aus „Big Jim’s Tango“ (1982): Der Tenorsaxofonist Bennie Wallace gehört zu den klassischen Enja-Entdeckungen – und die Trioaufnahmen zu „Big Jim’s Tango“ mit Elvin Jones und Dave Holland zu den spannendsten Sessions in der 40-jährigen Geschichte. Bei „My Heart Belongs To Daddy“ scheint die Melodie förmlich durch Wallaces Saxofon zu fließen.
Abdullah Ibrahim „Calypso Minor“
aus „No Fear, No Die“ (1979): Die Titelmusik für „S‘en Fout La Mort“ (No Fear, No Die), einem Film der französischen Regisseurin Claire Denis, die sich die farbenreiche Pianistik von Abdullah Ibrahim zu eigen machte. Das Resultat: ein knallhartes, verstörendes Roadmovie über das Leben von Schwarzen in Pariser Vororten, über Spielhöllen oder Hahnenkämpfe in Tiefgaragen, mit einem Soundtrack von mystischer Suggestionskraft.
Archie Shepp/Mal Waldron „Lady Sings The Blues“
aus „Left Alone Revisited“ (2002): Zwei Schlüsselmusiker des Labels im intimen Duo zu Ehren Billie Holidays. Archie Shepp verband mit Horst Weber eine tiefe Freundschaft, die in mehreren Produktionen mündete, und Mal Waldron nahm für Enja die allererste Platte auf – Gleiches hatte er übrigens zwei Jahre zuvor auch für ECM getan. Beider Zusammentreffen stellt die letzte Aufnahme Waldrons dar.
Dusko Goykovich w. Ekrem Sajdic Gypsy Groovz “?o?ek Sre?e“
aus „Rivers Of Happiness“ (2001): Bei Dusko Goykovich fiel die Auswahl mit am schwersten. Dass sich Winckelmann für die Session mit der serbischen Brassbanda Ekrem Sajdic Gypsy Groovz entschied, die 1997 beim Sturm auf den Belgrader Präsidentenpalast die Menge aufheizte, liegt an Goykovichs Wurzeln. Der Trompeter war 1955 aus dem damaligen Jugoslawien geflüchtet, um in Amerika, Japan und Deutschland eine Weltkarriere zu starten.
Glenn Ferris „Qui?“
aus „Refugee“ (1997): Glenn Ferris mit Bruno Rousselet (Bass) und Vincent Segal (Cello) zu hören ist nicht nur für den Posaunisten Werner Aldinger ein ästhetisches Erweckungserlebnis. Der Amerikaner mit französischem Pass entführt in eine eigene Klangwelt voller Abenteuer.
Aki Takase „Ain’t Misbehavin‘“
aus „Plays Fats Waller“ (2003): Nachdem Japan in der Anfangszeit des Labels als Absatzmarkt und Künstlerressort hoch im Kurs stand, repräsentiert im vierten Jahrzehnt vor allem Aki Takase das Land des Lächelns. „Ain’t Misbehavin‘“ ist ein herrlich schräges Kunst-Stück zu Ehren Fats Wallers, bei dem die in Berlin lebende Pianistin zwischen stupender Technik, herrlich süffigen Strideläufen und chaotischen Clustern hin und her hüpft.
Susi Hyldgaard „Blush“
aus „Blush“ (2006): „Im Mittelpunkt stehen bei ihr vor allem die Songs“, betont Werner Aldinger. Aber auch Pop, Singer-/Songwritertum und dezente Elektronik. Susi Hyldgaards Stimme erhebt sich nicht über die Instrumente, sondern lässt sich mitten in sie hineinfallen, folgt blindlings dem Weg der Arrangements, assimiliert Farben und Temperaturen und erlangt so eine trügerisch unverfängliche, tiefe emotionale Intonation.
Florian Weber „Alone Together“
aus „Blurring The Lines“ (2009): Die Freiheit, Musik einfach laufen zu lassen, sie dem jeweiligen Augenblick zu überantworten, nimmt sich Minsarah, das Trio um den Pianisten Florian Weber. „Alone Together“, das einzige Standardthema aus dem jüngsten Werk des Kollektivs, wird nicht einfach so dahingeklimpert, sondern erfährt mit einem verqueren 11/16-Takt einen unwiderstehlichen Groove.
Dhafer Youssef „Yabay“
aus „Electric Sufi“ (2000): Mit Wolfgang Muthspiel, Mino Cinelu und Will Calhoun gelangen Dhafer Youssef arabische Klänge, die sich mit Loops und Ambient Sounds verzahnen, als wäre der Großstadtdschungel in die Sahara verpflanzt worden. Das i-Tüpfelchen bilden die archaische Oud und die Fünf-Oktaven-Stimme des Protagonisten. Kommentar Matthias Winckelmann: „Richtig frech und großartig, bester Dhafer!“
Renaud Garcia-Fons „Jam Buleria“
aus „Oriental Bass“ (1997): „Dufte!“: Noch so ein typischer Winckelmann-Superlativ, der ihm zu „Jam Buleria“ aus dem zweiten Album des Bassisten Renaud Garcia-Fons einfällt. Der Franzose produziert unerhörte Klänge mit Hilfe des Bogens oder überlagerter Spuren und greift sensibel auf klassische, orientalische oder jazznahe Momente zurück.
Rabih Abou-Khalil „Afterthought“
aus „Il Sospiro“ (2001): Was dem einem seine Norah Jones, ist dem anderen Rabih Abou-Khalil. Der libanesische Oud-Virtuose gilt mit rund einer Million verkauften Tonträgern als der erfolgreichste Künstler in der Historie Enjas. Auch deshalb setzt das lyrische „Afterthought“ aus seinem Soloalbum „Il Sospiro“ den perfekten Schlusspunkt: innehalten und nachdenken.