European Jazz Legends, Teil 18

Uli Gumpert, Conny Bauer, Louis Sclavis

Drei Musiker, die aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten stammen und doch Teil einer gesamteuropäischen Jazzbewegung sind, bekamen Besuch von Götz Bühler und Lutz Voigtländer.


Conny BauerLouis Sclavis

Uli Gumpert

„Das Auf und Nieder hat man sich ausgesucht.“

Eine Plattensammlung soll allerhand über den Charakter ihres Besitzers aussagen. Eilon Paz, Fotograf des vinylvoyeuristischen Bildbandes „Dust & Grooves“, schreibt im Vorwort dazu: „Mir kommt die Musik wie eine stillschweigende Religion vor, und die Platten sind ihr Glaubensbekenntnis.“

Uli Gumpert (Foto: Lutz Voigtländer)

Ein paar tausend dieser Vinyl gewordenen Charaktergebete sind, neben noch einmal so vielen CDs, diversen Abspielgeräten und zahlreichen Büchern über Musik, auf zwei Zimmer der Wohnung von Uli Gumpert in Berlin-Mitte verteilt. Der 72-jährige Pianist und Organist, bekannt etwa als Gründungsmitglied von SOK und Synopsis und somit auch des Zentralquartetts, hat seine Plattensammlung sorgfältig sortiert, nach Labels und Katalognummern – zum Beispiel gut einen Meter Impulse!, mindestens zwei Meter Blue Note, etwa sechs Zentimeter Gumpert. Ein Griff ins Regal, und der Musiker, der laut Stasiakte „zu den profilierten und befähigten Free-Jazz-Musikern der DDR zählen soll“, präsentiert eine bunte, gut abgegriffene 10-Inch.

„Das war meine erste Scheibe, eine polnische Zehn-Zoll mit den Tremble Kids aus Zürich. Die gab’s bei mir in Thüringen, in dem Dorf, wo ich zur Schule ging, für 9 Mark 40 Ost. Gekauft hatte ich sie mir, weil Meister Franke, eigentlich unser Lehrer für technisches Zeichnen, aber bald auch unser Musiklehrer und selbst Künstler und Cellist, meinte: ‚Vorbarock, Barock, Klassik, die Moderne – und Jazz‘, er sagte ‚Jatz‘, wie alle damals, ‚das sind die guten Musiken.‘ Das war für mich der Auslöser, dass ich in den Plattenladen ging. Da war ich 14.“

Wahrscheinlich lässt sich die gesamte Jazzgeschichte des Uli Gumpert anhand von Schallplatten erzählen. Zumindest zünden sie allerhand Anekdoten: Wie Gumpert aufgrund seiner ersten Dixieland-Platte die Tuba in der Blaskapelle seines Vaters ein bisschen nach New Orleans klingen ließ. Wie er fast vom Musikinternat im Schloss Belvedere in der Nähe von Weimar geflogen wäre, weil man in seinem Zimmer zwei Singles von Louis Armstrong, also „imperialistisches Gedankengut“, entdeckt hatte. Wie er bei einem Schallplattenvortrag von Josh Sellhorn zum ersten Mal ein Album von Art Blakeys Jazz Messengers hörte, Blue Note 4003 mit „Moanin‘“, und wie ihm der DDR-Jazzexperte genau dieses Exemplar viel später, nach der Wende, vermachte. Wie er als Student in einem Kommissladen in Warschau für einige hundert Zloty seine ersten eigenen Original-Blue-Notes erwarb – darunter Art Blakey & The Jazz Messengers „A Night In Tunisia“, John Coltranes „Blue Train“ oder Horace Silvers „Horace-Scope“. Wie er diese Schätze vor Angst zitternd, aber sicher durch die Grenzkontrolle schaffte. Oder eben die Geschichten um seine erste Muza-Zehn-Zoll mit den Tremble Kids.

„Bei uns zu Hause gab’s nur ein altes Grammofon mit Nadel. Das ging natürlich nicht. Da habe ich gegrübelt: Wie kann ich die jetzt hören? Kaum jemand hatte einen Mikrorillen-Plattenspieler. Ich hatte eine Idee: Ich habe die Scheibe aufgelegt und den Geschwindigkeitsregler so weit runtergedreht, dass es ungefähr 33 Umdrehungen waren. Dann nahm ich ein 6×9-Fotonegativ und setzte es, damals noch mit ruhiger Hand, in die Rille. Das funktionierte wie eine Membran – so hörte ich zum ersten Mal den ‚Basin Street Blues‘.“ Gumpert lacht, es klingt kehlig und wirkt ansteckend. „Irgendwann fand ich raus, dass ein Bauer, mit dessen Tochter ich zur Schule ging, einen Plattenspieler hat. Dann bin ich da hin und habe gefragt: ‚Darf ich die mal bei Ihnen anhören?‘“ Aber ich bin nicht sehr weit gekommen, höchstens die erste Seite – die haben mich wegen der Musik für verrückt erklärt.“

1961 bestand Gumpert dank der Unterstützung des oben zitierten Meisters Franke die Aufnahmeprüfung in Weimar. Das Kontingent für sein Wunschfach Klarinette – nun gut, eigentlich wollte er Saxofon studieren, aber das stand überhaupt nicht im Lehrplan war jedoch erschöpft. Fagott oder Posaune wär noch möglich gewesen, aber die wollte er nicht. „Wenn Sie nachmittags um zwei zurückkommen, ist unser Waldhorn-Lehrer da.“ Damit konnte er sich anfreunden. Allerdings passierte da etwas, was man, wie er sagt, „nur vom Pferdemarkt kennt: Der Lehrer kommt zu mir, nimmt meinen Kiefer in die Hand, guckt mein Gebiss an und sagt: ‚Wie geschaffen für das Waldhorn!‘ Da ich nichts anderes wusste, hab ich gesagt: ‚Klar, okay!‘ Ich hatte irgendwann noch mal probiert, zur Trompete zu wechseln, aber das wurde auch abgelehnt.“ Schon nach einem Jahr meisterte er ein Mozart-Hornkonzert, wofür es „eine dicke Eins“ gab.

„Aber nach drei Jahren Waldhorn bin ich rausgeflogen. Weimar war von allen Musikhochschulen die stalinistischste. Und ‚Jatz‘ war damals verpönt. Ich bin ja nicht rausgeflogen, weil ich lernunwillig gewesen wäre. Wenn man den sogenannten Marxismus-Leninismus als Philosophie dargeboten hätte, wäre das was anderes gewesen. Aber man musste ja Zeitungsartikel aus dem ND vorbeten. Das war alles so eine korrupte Geschichte. Die Lehrer in der Bläserabteilung waren alle zusammen in der Staatskapelle, die haben alles untereinander ohne diesen Scheiß besprochen. Aber sie bekamen wirklich von der Hochschule gesagt, dass sie mir eine Fünf geben müssen, weil ich in Marxismus-Leninismus eine Fünf hatte. Das war so bitter damals.“

Bei Uli Gumpert (Foto: Lutz Voigtländer)

Weil er „eine Akte“ hatte, wurde Gumpert nach dem Rauswurf in Weimar auch an keiner anderen Hochschule angenommen.

„Dresden nicht und Berlin auch nicht. Später war ich trotzdem ein Jahr an der Hanns Eisler, da hab ich mich richtig eingeschmuggelt, teilweise schon Unterricht gegeben. Irgendwann hat man ein Einsehen mit mir gehabt. Na ja, die Lehrer waren auch nicht die schlechtesten.“ Streng genommen durfte er gar nicht in Berlin wohnen. „Ich hatte ja keine Aufenthaltsgenehmigung. Man bekam die nur mit einer reinen Akte, oder man heiratete. Beides nicht drin. Also wohnte ich die ganze Zeit in Wohnungen von Freunden oder deren Freunden und Kollegen, anfangs mit Reinhard Lakomy in einer Einraumwohnung in der Brunnenstraße, direkt an der Mauer. Später bei einem Maler, den ich über Barbara Thalheim kennengelernt hatte. Wenn wir mal wieder kein Geld hatten, mussten wir Kartoffeln und Kohlen klauen.“

An der Wohnung, die er mit dem Maler teilte, hing kurz vor Ostern 1967 ein Zettel, als er nachts von einem Auftritt zurückkam. „Morgen, 13 Uhr, Teerstraße Nummer sowieso, Abfahrt. Klaus Lenz.“ Es ging nach Görlitz, zu zwei Tanzabenden.

„Das heißt, nach dem ersten Abend meinte Klaus Lenz: ‚Das war’s, kannst wieder nach Hause fahren. Aber vorher machen wir noch eine Probe.‘ Die musste ich noch mitmachen. Er hatte schon Hannes Zerbe angerufen, der sollte weitermachen. Aber irgendwie spielten wir während der Probe Stücke, die ich aus dem Kasseturm und von Scheiben kannte. Als Hannes kam, meinte Klaus: ‚Du kannst wieder geh‘n, ich behalt den Typen!‘ Das war mein Einstieg. Nach kurzer Zeit bin ich dann auch nicht mehr zur Hochschule gegangen. Ich dachte, nee, Klaus Lenz ist die bessere Schule. Baby Sommer war damals schon da, auch Günter Fischer. Es wechselte immer so ’n bisschen beim Lenz. Es kam öfter vor, dass er die ganze Band rausgeschmissen und sofort wieder eingestellt hat. Romantisch war es nicht, aber es hatte schon eine gewisse Spannung, damals in Berlin.“

Noch einen Auszug aus seiner Stasiakte: „Bedingt durch seine charakterliche Labilität, die sich vor allem in Gläubigkeit und Naivität, aber auch in starkem Alkoholgenuss und prinzipienlosen Beziehungen zu Frauen äußert, entwickelte sich Gumpert zu einem Menschen, welcher zu vielen negativen Gruppen und Personen der Hauptstadt Kontakt unterhält. So gehörte Gumpert beispielsweise zu dem engeren Kreis um Biermann, Nina und Eva Maria Hagen.“

Es fällt schwer, die Geschichten aus dem Ostberlin der späten 60er- und frühen 70er-Jahre mit Berlin-Mitte im Winter 2016 zu vereinbaren. Der „Tränenpalast“, den man sehen könnte, wenn man sich weit aus Gumperts Wohnzimmerfenster im vierten Stock lehnt, und das „Berliner Ensemble“, das man früher von hier im Blick hatte, sind umgeben und zugebaut mit „Verbrechen“, wie Gumpert die schnell und schnöde hochgezogenen Neubauten nennt. Gegen das Hotel, das ihm vis-à-vis die Sicht und das Licht nimmt, hatten er und einige Mitbewohner noch geklagt, erfolglos. „Na ja, Berlin beste Lage“, frotzelt er, in Anspielung an den Titel eines „Tatorts“, den er 1993 vertont hat.

„Weil wir schon seit Ende der Siebziger mit dem Zentralquartett raus durften, in die NSW, wussten wir ja früh, wie die Situation der Kollegen im Westen war. Deswegen hatte ich eigentlich nie den Gedanken, da zu bleiben. Nur einmal, 1982. Da war die politische Großwetterlage mal wieder so, dass es nicht so gut für Künstler aussah. Danach wurde es auch ein bisschen liberaler, man konnte auch so ein bisschen rumreisen. Und wir hatten mit dem Zentralquartett ein tolles Publikum: Die meisten Leute im Osten hatten ja kein Problem mit dem Free Jazz. Das war eben ein Hauch Freiheit, den sie sonst nicht hatten.“

Mit den alten Kollegen – mit dabei sind noch Luten Petrowsky und Günter Baby Sommer – und einem neuen Posaunisten hat das Zentralquartett Ende 2016 das Album „… paar eckige Runden drehn!“ mit Wolf und Pamela Biermann veröffentlicht und einige launige Konzerte gegeben, etwa anlässlich Biermanns Achtzigstem im ausverkauften Thalia-Theater in Hamburg.

„Im Januar machen wir mit Biermann wieder ein Konzert hier im Berliner Ensemble. Ansonsten versuche ich gerade, mithilfe einer Agentur im Frühjahr noch mal so eine Quartettgeschichte hinzukriegen. Was mach ich sonst noch? So dies und jenes. Mit zwei Schauspielerinnen ein Tucholsky-Programm. Da spiele ich ’n bisschen mit fliegender Linker. Da ist auch nicht so viel zu verdienen. Aber wenigstens etwas. Na gut, das Auf und Nieder hat man sich ausgesucht.“


Conny BauerLouis Sclavis

Text
Götz Bühler
Foto
Lutz Voigtländer

Veröffentlicht am unter 117, Feature, Heft

Deutscher Jazzpreis 2025