Tim Berne

Gruppenmusik

Es gab Zeiten, da veröffentlichte Tim Berne gefühlte zehn Platten im Jahr. In der letzten Zeit hat er sich jedoch rar gemacht. Hin und wieder mal ein Lebenszeichen auf Clean Feed, zwei Jobs als Sideman bei David Torn und Mike Fomanek für ECM, und das war’s. Mit seinem neuen Album „Snakeoil“ (ECM/Universal) holt er nun weit aus. In einem Quartett, zu dem Klarinettist Oscar Noriega, Pianist Matt Mitchell und Drummer Ches Smith gehören, stellt er sich völlig neu auf.

Tim Berne (Foto: Arne Reimer)Es ist genau der richtige Zeitpunkt, dass sich seine eigene künstlerische Schaffenskurve mit der klangphilosophischen Linie von ECM kreuzt, findet Tim Berne:

„Manfred Eicher betreibt nun seit 40 Jahren Klangforschung. Ich empfand es als Vorteil, an dieser Erfahrung zu partizipieren. Die Musik entspricht genau den Vorstellungen, mit denen ich ins Studio ging, aber es ist fantastisch, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der so viele Alben produziert und so viel Musik aller Genres gehört hat. Ich kenne ihn ja nun schon eine Weile. Wann immer wir uns unterhalten, stellen wir fest, dass wir früher dieselbe Musik gehört haben. Wir standen auf die Jungs aus Chicago wie Threadgill, Braxton und Roscoe Mitchell, aber auch Paul Bley.“

„Snakeoil“ bedient alle Erwartungen, die man an eine Platte des künstlerisch stets zuverlässigen Tim Berne haben kann, und doch stellt das Album eine Zäsur in seinem Gesamtwerk dar, denn es repräsentiert das bei weitem minimalistischste und reduzierteste Stück Musik, für das er je verantwortlich zeichnete. David Torn war es, der ihn für den Unterschied zwischen Live- und Studiosituationen sensibilisierte.

„Im Studio lässt man sich nicht so leicht ablenken. Ich bedenke alle Eventualitäten vor der Aufnahme und reagiere nicht mehr so sehr auf den Moment. Für mich war ‚Snakeoil‘ die Rückkehr zu ausgefeilteren Kompositionen. Mit dieser Instrumentierung kann man sehr transparent, aber auch sehr voll spielen. Bevor ich ins Studio gehe, ist die Musik zu 90 Prozent fertig. Aber da sind noch zehn Prozent Verbesserungspotenzial, für die ich den Input von außen brauche. Früher wollte ich auf Teufel komm raus meine Vorstellungen durchsetzen. Heute bin ich eher dankbar für Veränderungen, die der Musik zugute kommen.“

Auch im Gespräch ist Tim Berne ungleich offener als in den 90er-Jahren. Es macht ihm Spaß, über seine Arbeit zu reden. In der Musik selbst lässt er erstmals anderen den Vortritt. Auf „Snakeoil“ steht nicht sein Horn im Vordergrund. Die ganze Klangarchitektur scheint sich am Klavier von Matt Mitchell aufzurichten. Berne lernte den Pianisten kennen, als dieser ihn vor zwölf Jahren per Brief um eine Partitur bat. Damals hielt der Saxofonist seine Musik selten exakt schriftlich fest, doch er biss sich an dieser Herausforderung fest. Nachdem er Mitchell den Score geschickt hatte, hörte er jedoch nichts mehr von ihm. Bis Ralph Alessi ihm erzählte, da sei so ein junger Pianist, den er unbedingt mal kennenlernen müsse. Sie trafen sich, spielten kurz zusammen, und der Saxofonist wusste sofort, dass er mit dem jungen Tastenromantiker eine Band aufbauen wollte. Eine Band mit völlig neuen Parametern.

Ging es in allen bisherigen Gruppen von Tim Berne immer um die Musiker selbst und den physischen Akt des Spielens, steht diesmal allein die Musik im Mittelpunkt. Wer wann in Aktion tritt, ist zweitrangig. Es gelingt den vier Spielern, hinter der Musik zurückzutreten und sich trotzdem voll einzugeben.

„Es ist Gruppenmusik“, bestätigt Berne, „dabei ist völlig irrelevant, wer solo spielt oder ob es überhaupt Soli gibt. Solo interessiert mich überhaupt nicht, es sei denn, ich schreibe mal für irgendwen ein Concerto. Es gibt sicher solistische Momente, aber auch viele kollektive Aspekte. Als ich diese Musik schrieb, wusste niemand von uns, wohin wir damit gehen würden. Aber ich sagte den Musikern: ‚Vermeidet nichts von dem Material, sondern nutzt es. Vermeidet auch nicht das Offensichtliche, anstatt nach den geschriebenen Parts total frei auszubrechen.‘ Die Stärke dieser Band besteht nicht nur in improvisatorischer Geduld, sondern auch in der Bereitschaft, das geschriebene Material wirklich auszubeuten. Die Komposition soll doch etwas provozieren, das sonst nicht passieren würde. Es geht ja nicht um mein Ego, sondern um eine Umgebung für Improvisation.“

Dass es nicht um Ego geht, zeigt auch Bernes subtiler Umgang mit seinem Co-Holzbläser Oscar Noriega. Obgleich das Spiel der beiden sehr kontrastreich ist und sich auch von der Wahl der Hörner her unterscheidet, fließen ihre Intentionen doch derart ineinander, dass sich von außen oft nur schwer entscheiden lässt, wer gerade spielt. Die größte personelle Überraschung ist in diesem Quartett jedoch Drummer Ches Smith, den man sonst aus wesentlich offensiveren Kontexten als dieser fein gezeichneten Kammermusik kennt. Sein Drumming auf Schlagzeug, Pauken und Congas ist so zurückhaltend und facettenreich, das die Band an ein Quartett aus zwei Bläsern und zwei Pianisten erinnert.

„Snakeoil“ gehört sicher zu Tim Bernes fundamentalen Platten. Die CD repräsentiert nur gut ein Fünftel des Repertoires dieser Band. Da kann also noch einiges kommen. Hoffentlich bald.

Text
Wolf Kampmann
Foto
Arne Reimann

Veröffentlicht am unter 92, Feature, Heft

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