Die Konfession des Jazz

Pit HuberAuf der Buchmesse in Frankfurt kürzlich habe ich auch Jazz gehört – an den Ständen religiöser Buchverlage. Der Paul-Gerhardt-Choral von heute wird nämlich auf einem Sopransaxofon gequiekt oder zu einem swingenden Klaviertrio gecroont. Ziemlich schauerlich, das Ganze.
 
Als ich es beim Bier meinem Freund Rainer erzählte, lachte der nur. „Kenn ich alles!“, rief er. „Bei mir daheim ist die Stadtkirche der führende Jazzclub. Keine Woche ohne Jazz-Meditation über den Frieden, die Geschlechter oder das Alter. ‚Hinterfragende Musik‘ nennen die das. Aber mal ehrlich: Jazz hatte doch schon immer dieses Evangelische an sich, die frohe Message, das Bekenntnishafte, das Streben nach Gott, das Erweckungserlebnis der Gemeinde. Jazz kommt schließlich aus dem Gospel, aus den Camp Meetings. Und denk an all die Baptistensöhne, Fats Waller, Nat King Cole, Hampton Hawes und so weiter. Oder an Coltrane, Gottsucher auf eigene Faust. Oder diese Baptistenkirche in Harlem, wo sie immer Jazz Services feiern und sich ständig umarmen müssen!“
 
Ich nahm einen großen Schluck Bier, um die Kraft zu finden, meinem guten, alten Rainer zu widersprechen. „Wieso denn evangelisch? Jazz ist auf jeden Fall katholisch! Er kommt nämlich aus New Orleans, einer Kolonie romanischer Kultur. Die Prozession, der Funeral March, der Karneval, die farbige Vielfalt, das Zirzensische – ich sage nur: Mardi Gras! Wusstest du eigentlich, dass Louis Armstrong mal King of the Zulus war? Und die Verschmelzung von Heiligen und Orishas… Jazz hat ja in New Orleans die Voodoo-Praxis abgelöst, das ging nur dank Katholizismus. Die Lebendigkeit des Heiligenkults erleben wir im Jazz doch jeden Tag, auf jeder Tribute-CD!“
 
Jetzt nahm Rainer einen ganz, ganz großen Schluck. „Voodoo? Jetzt bist du aber in Afrika gelandet! Also, wenn es schon eine außerchristliche Religion sein soll, dann ist Jazz für mich buddhistisch! Die Versenkung in den Augenblick, die Meditation über den richtigen Ton und die nicht gespielten Töne… Überhaupt das Improvisieren selbst! Du weißt doch, was Bill Evans schrieb auf unser aller Lieblingsplatte: Jazz-Improvisation ist wie japanische Seidenmalerei, Inbegriff des Jetzt, Zen-Kunst, noch kein fertiges Bild. Stan Getz hat das geglaubt, Tony Scott sowieso, oder denk an Greg Osby! Die Intensität des Luftflimmerns, der Van-Goghismus!“
 
So poetisch-philosophisch kann Rainer manchmal sein, wenn er Bier getrunken hat. Ich sah Arthur Blythe als lächelnden Buddha vor mir schweben und musste selbst lächeln. Gerade setzte ich zu einer erneuten Widerrede an, wollte den Hinduismus gegen Rainer ins Spiel bringen, Karuna Supreme, das modale Prinzip des Raga, die Vielfalt der Hausgötter (dabei verstehe ich natürlich überhaupt nichts von Hinduismus), als plötzlich Pia durch die Tür wirbelte. Pia in unserer Stammkneipe! „Wisst ihr eigentlich, ihr Jazz-Gelehrten“, sagte sie ohne Einleitung, „warum so viele Jazzmusiker in den Fünfzigern und Sechzigern Moslems wurden? Abdul-Malik, Yusef Lateef, Idrees Sulieman, Sahib Shihab, diese Leute?“
 
„Klar, weil dann in ihren ID-Cards das ‚Colored‘ gelöscht wurde!“ – „Weil Afrika ‚in‘ war!“ – „Weil Jesus versagt hatte, vielleicht?“ – „Weil die moslemischen Gemeinden in Amerika mehr für die schwarzen Ghettos taten!“ Rainer und ich überboten einander wie die Streber in der ersten Bankreihe. „Alles richtig, alles falsch“, sagte Pia erbarmungslos. „Es war, weil der Jazz seine wahre Natur entdeckte! Das sind nämlich nicht die albernen, dekadenten Broadway-Songs, sondern vielmehr die ungefilterten Emotionen, die Trance-Tänze der Sufis, die Inbrunst der Zurna, die Gottessuche als Klang…!“
 
Ich glaube, ich legte meinen Kopf schief, während ich rätselte, was mit Pia plötzlich los war. Dann stellte sie uns Abdul vor, einen großen, unverschämt gut aussehenden Kerl mit teerschwarzem Haar, teerschwarzen Augen und einem entwaffnend freundlichen Grinsen. Er war Tunesier, sie hatten sich an der Volkshochschule kennen gelernt.
 
„Ich will euch dann nicht weiter stören. Wir gehen noch ins Kino!“ Dann wirbelte Pia wieder hinaus, Abdul hinterher wie der Mond der Erde. „Muss ich mir Sorgen machen?“, fragte ich dumpf. „Ich glaube nicht“, sagte Rainer. „Ich kenne den Burschen: nett, aber völlig unmusikalisch. Der hat keine Chance bei Pia. Du weißt doch, ihre Konfession ist der Jazz.“
 
Pit Huber

Veröffentlicht am unter Blog thing

STOP OVER 3 - A Residency Program
CLOSE
CLOSE