Geh nach Bälliehn!
Früher gingen junge Männer nach West-Berlin, um sich vor der Bundeswehr zu drücken. Heute genügt als Motiv schon ein Blick in den Mietspiegel: In Berlin wohnt man um 20 Prozent billiger als in Köln und um 30 Prozent billiger als in München. Selbst Sprockhövel und Tönisvorst haben höhere Quadratmeterpreise als die Bundeshauptstadt. Und dabei längst nicht so viele Currywurst- und Dönerstände.
Das Problem ist: Die Städte im Westen dürren kulturell aus, denn ALLE gehen „nach Bälliehn“. Köln etwa, einst Deutschlands heimliche Medien- und Jazzhauptstadt, hat jetzt nur noch den Dom und den Karneval. Damit wird die Rückkehr von Podolski zum kulturellen Jahreshöhepunkt. Wären da nicht ab und zu Gastspiele Berliner Jazzmusiker, man wüsste nicht, wie man in Köln den Abend verbringen sollte. Eine Jazzsaxofonistin aus Ehrenfeld klagte kürzlich, sie habe die Hälfte ihrer Bekannten und Freunde verloren. Jetzt hat sie eine Handy-Flatrate. Ihr Köln wohnt in Neukölln.
Berlin besitzt die höchste Jazzmusikerdichte aller deutschen Städte. Aber was hat Berlin sonst? Politikerkultlokale, Musikglamourpaläste, Swingnostalgieshows. Drum herum nur Currywurst, Seen und Brandenburg. Eine Million freischaffender Künstler praktizieren daher für sich und ihre Künstlerfreunde in Betonkellern und Kachelbars, in die sich selbst ein Bundestags-Hinterbänkler nur mit vier Bodyguards reintrauen würde. Eine Million freischaffender Künstler leben vom Unterrichten, vom Zeitungen-Austragen und von 30-Euro-Gigs.
Das Selfmade-Jazzparadies Bälliehn liegt damit voll im Trend des gesamtgesellschaftlichen Do-it-yourself-Revivals. Alles macht man heute ja am besten selber: Sich im Restaurant am Mittagsbüffet bedienen, an der Tanke selber tanken, Hotels und Flüge online buchen, am Terminal-Automaten selbst einchecken… Irgendwann werden wir die Flugzeuge auch noch selber fliegen müssen. Und natürlich organisieren Musiker ihre Jazzkonzerte selbst. Raum mieten, Werbung schalten, Getränke ausschenken, Ansagen vorbereiten. Berlin ist die Zukunft.
In London haben sie sich gerade spaßeshalber gefragt: Ist London noch Europas Jazzhauptstadt? Im Grunde interessiert das keinen, denn Metropolen sind wie Ameisenhaufen: Da ist immer was los und den nächsten Haufen kennt man nicht. Aus der Sicht von Jazz-London ist Berlin einfach nur der fremde Haufen, in den sich die Londoner Ameise Tom Arthurs verirrt hat. Ein Kulttrompeter, der u.a. mit Ollie Bown, Jasper Hoiby, Stuart Ritchie, Richard Fairhurst, Matthew Bourne, Chartwell Dutiro und diesen Leuten auftrat. Von denen wiederum hat man in Berlin noch nie gehört. Auch in Paris singt in jeder Hotelbar ein weltweit unbekannter Weltstar. Kurz: Die Frage nach Europas Jazzhauptstadt stößt ins Nichts. 59 Stimmen wurden bisher weltweit abgegeben. Aber die Umfrage läuft ja noch bis 28. Mai (http://londonjazz/blogspot.com).
Immerhin gibt es jetzt ein zweites Berliner Jazzfestival, passenderweise im Mai, also im Halbjahresrhythmus mit dem JazzFest. Beim „Berlin Jazz and Blues Bash“ standen dieses Jahr u.a. die Tom Larsen Blues Band und die Newcomer Muskrat Sally auf dem Programm. Berlin ist ein 3.000-Seelen-Kaff in Maryland. Vom Berliner JazzFest hat man dort noch nie gehört.
Pit Huber
Tom Arthurs soll in Berlin wohnen, erzählt man sich in London. Auch in Paris machte die News bereits die Runde. Doch auf den Berliner Bühnen: kein Tom Arthurs weit und breit. Dabei soll Arthurs, als er noch in London wohnte, so super gespielt haben. Macht Berlin bequem? Sind die Mieten hier etwa so billig, dass man nur noch wohnen möchte? Joshua Redman erzählt, dass auch Brian Blade nun in Berlin wohnen soll. „Aus privaten Gründen“. Und Jason Moran will sich ein Apartment in Mitte kaufen.