Hen to pan
Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? – Dies fragt sich der Mensch seit jenem Tage, an dem er vom Baum in der Mitte des Paradieses aß und somit das „Auge seines Verstandes geöffnet“ wurde, wie es im „Apokryphon des Johannes“ heißt, jenem Dialog-Evangelium aus der sethianischen Gnosis, das ägyptische Bauern auf der Suche nach Sabakh, einem natürlichen Dung für ihre Felder, im Dezember 1945 in einer Höhle in der Nähe von Nag-Hammadi zufällig zusammen mit anderen Schriften aus der Frühgeschichte des Christentums ausgruben. Priester aller Religionen, Philosophen aller Schulen rangen und ringen immer noch vergebens um Antwort auf jene Frage, die uns Menschen seit dem „Sündenfall“ die Seele drückt: „Was mach‘ ich hier eigentlich?“
Ich beschäftige mich zurzeit – aus Gründen, die eben deshalb nicht zu erklären sind – mit einer Denkschule aus der Spätantike, die Ende des 15. Jahrhunderts noch einmal aufblühte. Diese Denkschule wird in der Philosophie als so genannter „Neuplatonismus“ rubriziert. Die Neuplatoniker splitteten sich schnellstmöglich in diverse Grüppchen und Untergrüppchen auf, deren Mitglieder sich gegenseitig des Abweichlertums ziehen. Dies ist nicht nur in der Philosophie seit alters her Usus, sondern in diesem Fall auch logische Konsequenz des allen Neuplatonikern gemeinsamen Grundsatzes: Uns ist eh‘ alles eins. Denn jedes, was ist, unterscheidet sich zwar von jedem, was sonst noch so ist, dennoch ist letztlich alles eins, da vom Ur-Einen, das wir mit der Chiffre „Gott“ belegen, emaniert.
Emanieren ist kein Begriff aus der Sexualkunde, sondern bedeutete den Neuplatonikern dies: Ausfluss aus der Überfülle des überseienden und absoluten Einen. Martin Heidegger etwa umschreibt diesen Schöpfungsvorgang mit dem Terminus „Geworfenheit“, das ungefragte In-die-Welt-gekommen-Sein, dessen Form die Faktizität des Daseins in Sein und Zeit annimmt. Mit anderen Worten: Die Welt ist Auswurf. Gott hat uns und alles, was um uns ist, ausgeworfen, so wie „Ihre Tollität“ die Kamelle vom Prunkwagen. Aus dem Ur-Einen floss zunächst der Nous oder Weltgeist, die Sphäre der Ideen oder Urbilder. Der Weltgeist bildet sich in der Weltseele ab, die sich über die in ihr enthaltenen Einzelseelen mit der Materie verbindet und so die Welt der Einzeldinge und -wesen, den Kosmos, schafft, dem wir Menschen angehören.
Alles ist mit allem verbunden, über die Seele als Mittlerin sogar mit den höheren Sphären des Seins und über alle Seinstufen (Hypostasen) hinaus selbst mit dem Überseienden, dem Ur-Einen.
„Hen to pan“ – diesen Grundsatz der Neuplatoniker übersetzen des Altgriechischen mächtige Philologen mit „Das Eine, welches Alles ist“ und manchmal auch so: „Eins ist das All“. Ein Schaubild dieser Welt gliche der Saitenbespannung eines Kontrabasses. Die Welt swingt. Jede deiner Regungen überträgt sich horizontal auf die anderen Saiten, sprich: auf deine Mitmenschen und in die Welt der Einzeldinge und -wesen um dich herum wie auch vertikal über alle Hypostasen hinauf bis ins Ur-Eine. Und so muss auch jeder Ton, der über oder neben dir – von wem oder was auch immer – angezupft wird, in dir erklingen. Alles tönt in allem und jedem, denn alles ist in allem und jedem und aus allem und jedem.
„Hen to pan“ – alles ist in allem und jedem. Sollte dieser Satz wahr sein, dann wird alles Erhabene durchpulst vom Banalen, ja Blöden, wie auch unter dem Banalen, ja Blöden immer der Bordun-Ton des Erhabenen brummt. Hinter jedem Kalauer lugen Konfutse und Kant; in jeder Weisheit steckt der Schalk.
Tanzen in den Funkenmariechen, die seit einem Vierteljahr an einem Abend pro Woche in der Autowerkstatt auf der anderen Straßenseite vis-à-vis vom Fenster meines Arbeitszimmers für ihren Auftritt bei der Prunksitzung proben, dann nicht auch ein wenig Ginger Rogers oder Pina Bausch mit? Da das Garagentor aus Kunststoffglas ist, kann ich die properen Mädels von meinem Schreibtisch aus gut dabei beobachten, wie sie von einem Choreografen angeleitet ihre Tanzfiguren zwischen Reifentürmen und auf Hebebühnen aufgebahrten Wagen einüben: Dreispitz, plissierter Minirock, Stiefeletten, alles tadellos. Aufstellung in einer Reihe! Hände in die Hüften gestemmt! Augen geradeaus! Lächeln und dabei Zähne blitzen lassen! Beine, streckt! Linkes Bein hoch! Rechtes Bein hoch! Kehrt links! Kehrt rechts! Spagat!
Welche Musik dazu spielt, kann ich – dem Ur-Einen sei Dank! – lediglich ahnen, da ich mir zwar einen Feldstecher, nicht aber ein Richtmikrofon leisten kann. Aber wenn „Hen to pan“ gilt, dann schmettert in jedem Fanfarenstoß ein wenig von Stan Kenton mit und in jedem Dreifach-Tusch tönt eine Ellington-Suite.
Im Narhalla-Marsch steckt mehr Jazz, als sich all unserer Intellektuellen Weisheit alpträumen lässt.
Ja, die Korrelation zwischen Jazz und Karneval ist von einer derartigen Evidenz, dass es um so mehr verwundert, dass bislang weder eine umfassende Untersuchung, geschweige denn auch nur eine zusammenfassende Darstellung dieses Phänomens vorliegt. – Was macht eigentlich die Jazzforschung? Was treiben eigentlich unsere Damen und Herren Musikologen in den Elfenbeintürmen von Darmstadt bis Newark, New Jersey?
Der Karneval zeigt sich in der Genese wie in der Evolution des Jazz von so eminenter Bedeutung, dass hier wohl von einem bewussten Wegsehen seitens der Wissenschaft ausgegangen werden muss. Borniertheit und Standesdünkel einiger sich Deutungshoheit anmaßender Intellektueller dürfen aber – und werden – nicht verhindern, dass auch ihnen unliebsame Wahrheiten in den öffentlichen Diskurs über Jazz eingehen. Allein die wenigen Indizien, die ich auf die Schnelle hier zusammengestellt habe, formen sich bereits zu einem unwiderlegbaren Beweis.
New Orleans gilt nicht nur als Geburtsstätte des Jazz, New Orleans ist auch die Karnevalshochburg der Vereinigten Staaten von Amerika. Hier den Zusammenhang nicht wahrhaben zu wollen, grenzt an Ignoranz: Die Marschkapellen, aus denen sich die ersten Jazzbands rekrutierten, spielten nicht nur zu Beerdigungen auf, ihr eigentlicher Daseinszweck bestand darin, am Mardi Gras, dem Fetten Dienstag, die Prachtwagen der zahlreichen als „Krewes“ bezeichneten Karnevalsgesellschaften auf ihrem Zug durch die Gemeinde zu begleiten. Der Mardi Gras zieht ebenso wie der Kölner Rosenmontag Hunderttausende an die Straßen, sodass wir die Stadt am Mississippidelta mit Fug und Recht in New Kölle umtaufen könnten.
In diesem Zusammenhang erscheint es mehr als beachtenswert, dass der bekannte Karnevalsschlager „Mer losse d‘r Dom en Kölle“ eine deutliche Distanzierung zu den Großstädten der Welt erkennen lässt und dabei explizit die Sixth Avenue im karnevalsfreien New York erwähnt, aber kein einziges abfälliges Sterbenswörtchen über New Orleans verliert. Das Libretto von „Mer losse d‘r Dom en Kölle“ zeugt außerdem von einer ausgeprägten Verbundenheit mit der Heimatstadt, die wohl nur in dem von Billie Holiday in Vollendung interpretierten Jazzstandard „Do you know what it means to miss New Orleans“ ihresgleichen findet. Dass die bekannteste Nummer des New-Orleans-Jazz, „When the saints go marchin‘ in“, sich wie eine Replik auf die rhetorische Frage „Woll mer se reilasse??“ ausnimmt, ist somit wohl mehr als schiere Inzidenz.
Im Februar 1949 wurde Louis Daniel Armstrong, der vielen als Inkarnation des Jazz gilt, zum „King of the Zulus“ gekrönt. König der berühmtesten Krewe von New Orleans zu werden, war, wie Armstrong bei dieser Zeremonie dem Bürgermeister sagte, immer sein Ehrgeiz gewesen und eine Ehre, die ihn glücklich sterben lasse, auch wenn er hoffe, dass ihn der Ur-Eine nicht allzu schnell beim Wort nehmen werde. Der König des Jazz führte als „König der Zulus“ den Karnevalszug durch New Orleans an; in vollem Ornat, eine Krone auf dem Kopf, das Gesicht pechschwarz gefärbt, um den Mund herum weiß geschminkt, schwarze Strümpfe, einen grünen Plastik-Bastrock um die Hüften und bemalte Kokosnüsse in die Menge emanierend. Armstrong hatte schon 1926 dem „King of the Zulus“ eine gleichnamige Komposition gewidmet. Armstrongs vergötterter Übervater Joe „King“ Oliver spielte bereits drei Jahre vorher seinen „Zulus Ball“ ein. – Alles ein Zufall??
Einen besonders starken Einfluss übte der Karneval auf den Bebop aus. Die Gemeinsamkeit zeigt sich zunächst in der Lust am Verkleiden: Zum Kostüm eines echten Bop-Fans gehörten zwingend eine blaue Baskenmütze, ein Ziegenbärtchen, eine Meerschaumpfeife und eine Hornbrille; ein Dress-Code, für den der tonangebende Musiker dieses Stils, John Birks Gillespie, Pate stand. Louis Armstrong karikierte diese Maskerade bei einer öffentlichen Darbietung seines „Whiffenpoof Song“, den er in „Boppenpoof Song“ umdichtete, wobei er eine karierte Ballonmütze mit Bommel auf dem Kopf trug.
Zum anderen gibt es frappante Kongruenzen zwischen dem Repertoire der Bebop-Musiker und den gängigen Schunkelliedern. Der Gitarrist Slim Gaillard und der Kontrabassist Slam Stewart taten sich hier als eine Art Colonia-Duett des Jazz hervor: Slim & Slam sangen Nonsens-Nummern wie den „Flat Foot Floogie“ und „Boot-Ta-La-Za“ oder garnierten einen Klassiker wie „Chinatown, My Chinatown“ mit Scat-Einlagen in Pseudo-Chinesisch. Hühnergegacker wurde zu ihrem Markenzeichen, nicht nur in „Chicken Rhythm“, sondern auch in zahlreichen anderen Nummern. Höhepunkt dieses närrischen Treibens waren einige Aufnahmen, die Slim Gaillard Ende Dezember 1945 mit Charlie Parker und Dizzy Gillespie machte: „Poppity, poppity, poppity pop goes the motocycle“. In freier deutscher Übersetzung ist dies nichts anderes als: „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“.
Ist es bloße Koinzidenz, dass Charlie Parker den Spitznamen Yardbird, Hofhuhn, trug, dass eine erste wichtige Station seiner Weltkarriere ein Lokal namens Chicken Shack, Hühnerverschlag, war, er einige seiner besten Aufnahmen in der New Yorker Hähnchenbraterei Royal Roost machte und die beliebteste Kölner Karnevalsband „Höhner“ (Hochdeutsch: Hühner) heißt? Ist es Zufall, dass Parker mit dem Gitarristen Tiny Grimes „Romance without finance is a nuisance“ einspielt, während die Jecken am Rhein zu „Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt?“ oder „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen“ schunkeln? – Wohl kaum.
Der Refrain von Slim Gaillards „Cement-Mixer“ endet auf „putti, putti!“, sprich: „pattie, pattie!“, eine Nummer, die das deutsche Trio „Die Travellers“ in kongenialer Übersetzung als „Zement-Mixer, batzi, batzi!“ einspielte. Wer ein Ohr fürs Onomatopoetische hat, kann kaum leugnen, dass dieses „Batzi, batzi!“ nichts anderes bedeutet als das Kölsche „Bütze, bütze!“ – Küssen, küssen!
Tut es wirklich noch not, zu erwähnen, dass ein großer Teil der Bebop-Nummern Bearbeitungen längst bekannter Swing-Standards sind? Derartige Bearbeitungen sind auch im Karneval gang und gäbe, hier sei nur auf „Who the fuck is Alice?“ verwiesen, dem ein alter Hit der Rockformation Smokie zu Grunde liegt.
Auch der Katzenjammer, der im Karneval nach der Verbrennung des Nubbels einsetzt, findet im Jazz seine Entsprechung: Macht es wirklich einen Unterschied, ob Dexter Gordon die gesamte Wehmut der Welt in Luis Bonfas „Manhã de Carnaval“ legt, ob Al Jarreau oder Sarah Vaughan „The masquerade is over and so is love“ seufzen oder ob Jupp Schmitz knödelt: „Am Aschermittwoch ist alles vorbei, die Schwüre von Treue, sie brechen entzwei?“
Nein! – Hen to pan!
Jazz ist Karneval, und Karneval ist Jazz,
Köbes, komm mal ran,
ich weiß, du hast heut Stress:
Zwei Stößchen noch, ach was, gleich vier.
Warum schenkt ihr in Köln das Bier
denn auch im Reagenzglas aus?
Du atmest ein, du atmest aus,
schon ist’s dahin.
Ich glaub‘, ich bin
schon etwas angeschla‘n.
Ich brauch‘ erst was zu futtern
so deftig wie bei Muttern.
Bring mir ne Henn‘ to Pan,
nee, wie heißt das Zeuch,
Käse auf Brötchen, noch mal bei euch?
Richtig: Ich will ne Halve Haan.
Kölle, Sabakh!!
Uwe Wiedenstried