European Jazz Legends, Teil 18
Uli Gumpert, Conny Bauer, Louis Sclavis
Louis Sclavis
„Wir dürfen uns nicht beschweren, wir müssen kämpfen.“
„Mitten im Nichts“, wie die erste Ortsbeschreibung lautete, liegt sehr nah an der Schweiz und gut eine Stunde Autofahrt entfernt von Lyon das 100-Seelen-Dorf Roissiat-Courmangoux. Louis Sclavis ist hier groß geworden. Neben seiner Wohnung in Lyon lebt der französische (Bass-) Klarinettist, Saxofonist und Komponist seit drei Jahren hauptsächlich hier, im ehemaligen Haus seiner Mutter.
„Die Hälfte meiner Familie stammt aus dieser Gegend“, erklärt der 63-Jährige. „Mein Bruder nutzt das Haus meiner Großmutter nebenan als Ferienhaus. Meine Wohnung in Lyon ist zu unaufgeräumt, hier habe ich mehr Raum, um kreativ zu sein. Dieser Ort ist eine gute Basis für meine Tätigkeit, mehr nicht – es kann ja keine Methode für die Steigerung der Vorstellungskraft geben, kein Rezept, um kreativ zu sein. Musik ist auch für mich ein Mysterium, und ich will, dass es so bleibt.“
Im Hintergrund arbeitet der Klavierstimmer an einem der beiden Pianos. Überall im Haus hängen und stehen Gemälde, ein paar afrikanische Masken, Kunstwerke und vor allem Fotografien, dazu diverse alte Kameras. Gemeinsam mit dem Fotografen blättert Sclavis durch Bildbände von Nan Goldin und Mario Giacomelli.
„Ich habe früher ab und zu Kunst gekauft. Im Moment hängen bei mir zu Hause viele meiner eigenen Fotos – und natürlich Bilder meines Vaters. Er hat als Fotograf in Lyon angefangen und davon gelebt, später hat er sich hauptsächlich mit Photogravure beschäftigt.“ Er deutet auf ein koloriertes Schwarzweißfoto, das drei große Schweine vor drei kleinen Kindern zeigt. „Das bin ich mit zwei Nachbarskindern. Sie wohnen noch hier im Dorf“, sagt er lächelnd. „Ich weiß durch meinen Vater, was es bedeutet, Fotograf zu sein. Es ist eine Lebensaufgabe.“
Auf louissclavis.blogspot.de ist als Überschrift zu lesen: „I started to take photos with a mobil phone until 2009, since 2009 I use a small camera.“ Einige dieser Bilder sind im Band „Vu au telephone“ zu sehen, außerdem zeigen seine drei letzten CDs für ECM eigene Motive auf dem Cover.
„Ich bin Amateur, und das ist okay für mich. Ich kann naiv sein, nicht zu modern und muss mir nichts beweisen. Ich fotografiere nur für mein Vergnügen. Wenn ich keine Bilder verkaufe, ist das egal, aber Musik muss ich verkaufen. Ich bin auch nicht immer in der Stimmung, um zu fotografieren. Es ist besser, wenn ich ein Konzept habe und mich zwei Tage lang darauf konzentriere. Mit der Musik ist es völlig anders, es gibt überhaupt keine Verbindung zwischen Musik und Fotografie für mich. Außer vielleicht, dass ich gerade eine Ausstellung über Musiker gemacht habe, sie heißt ‚Artistes‘. Ich habe vor vier, fünf Jahren damit angefangen, meine Kollegen abzulichten, oft beim Soundcheck oder auch unterwegs. Ab und zu ist die Ausstellung in Museen oder Galerien zu sehen.“
Selbstvertrauen sei die wichtigste Voraussetzung, wenn man Kunst macht, sagt Louis Sclavis, und eben jenes vermittelten ihm seine Eltern.
„Meine Eltern mochten alle möglichen Arten von Kunst, aber sie liebten Musik, und sie tanzten auch gerne. Meine musikalischen Ambitionen haben sie immer unterstützt. Sie glaubten an mich und vertrauten mir. Wenn man jung ist, ist das enorm wichtig. Als ich vier war, kaufte mir mein Vater eine Mundharmonika. Später haben mir meine Eltern eine Klarinette und ein Saxofon geschenkt, dabei waren sie nicht reich, es war nicht einfach für sie. Als ich aufhörte zu studieren und nur noch Musik machen wollte, unterstützten sie mich auch. Das ist das Wichtigste: dass sie mir sofort vertraut haben und dass sie glücklich waren, dass ich Musik machen wollte.
Mit meinem Bruder war es ähnlich – er ist Schauspieler, und sie haben ihn sehr unterstützt. Ich habe versucht, meinem Sohn, er wird bald 39, dasselbe Vertrauen mitzugeben. Er ist auch Musiker, ein sehr guter klassischer Pianist, aber sein Geld verdient er als Tai-Chi-Lehrer. Mein 13-jähriger Enkel, also sein Sohn, spielt Schlagzeug, aber Hardrock. Das ist eine andere Welt. Bassklarinette im Hardrock– unmöglich.“
Zum Jazz kam Louis Sclavis mit zehn. Schließlich spielte Sidney Bechet, „der damals berühmteste amerikanische Musiker in Frankreich“, auch Klarinette. Und weil auch Louis sich dieses schöne, schwarze Holzblasinstrument ausgesucht hatte, bekam er von Verwandten und Freunden zu jeder Gelegenheit Schallplatten von Bechet. Sein erstes Lieblingsstück hieß „Les Oignons“.
„Ich hatte bei einem älteren Lehrer Klarinettenunterricht. Bald ging ich zum Konservatorium und fing Anfang der Siebziger schon an, ‚frei‘ zu spielen. Ich erinnere mich gut an das erste Free-Jazz-Konzert, das ich hörte – 1969 mit dem Workshop d‘Lyon. Ich fing unmittelbar danach an, so zu spielen. Ich erlebte in dieser Periode einen sehr schnellen Übergang von New-Orleans-Jazz und der Musik von Duke Ellington, die mir noch immer sehr nah ist, zu Free Jazz. Erst später erfuhr ich, was es dazwischen musikalisch im Jazz noch so gegeben hatte.“
Mit 22 schloss Louis Sclavis das Konservatorium ab, eigene Bands hatte er schon zu Universitätszeiten gegründet.
„Damals war es einfacher, von Musik zu leben. Heute ist es viel schwieriger, auch in Frankreich – sogar in Deutschland. Es hat sich in den letzten zehn Jahren vieles geändert. Die Radiosender haben früher mehr Jazz produziert. Heute gibt es mehr Musiker, weniger Spielorte und weniger Geld. Aber wir dürfen uns nicht beschweren, wir müssen kämpfen. Und das ist gut. Die Situation ist überall sehr chaotisch. Wenn du in diesem Chaos leben willst, musst du selbst chaotisch sein. Es gibt keine Organisation im Chaos, es ist wie ein Fluss– wenn du im Fluss bist, musst du dem Strom folgen. Aber du musst kämpfen, du darfst nicht alles akzeptieren. Jeden Morgen, wenn du aufstehst, musst du kämpfen und immer einen Grund dafür finden.“
Als Louis Sclavis 1988 den „Prix Django Reinhardt“ bekommt, hat er schon an über 30 Schallplattenproduktionen mitgewirkt. Die zweite unter eigenem Namen hieß 1985 „Rencontres“, unter anderen mit Conny Bauer und Günter Baby Sommer. Viele seiner Produktionen und Gruppen beschäftigten sich in sehr freiem Sinne mit der „imaginären Folklore“ der Lyoner „Association à la Recherche d‘un Folklore Imaginaire“, kurz ARFI, der er sich schon 1975 angeschlossen hatte. 1995 veröffentlichte er nach einer ausgiebigen Tour durch Afrika mit Henri Texier und Aldo Romano das Album „Carnet des Routes“, dessen Titel bald zum Bandnamen wurde.
„Ich bin kein Spezialist für irgendeine Musik, nicht für afrikanische Musik und auch nicht für Jazz. Meine Arbeit ist immer sehr empirisch. Ich will nicht zu viel wissen, denn ich ziehe es vor, etwas auszuprobieren. Auch wenn es manchmal nicht genau das ist, was ich will, ziehe ich diesen empirischen Weg vor. Afrikanische Musik ist sehr anspruchsvoll, wenn man sie wirklich richtig spielen will, muss man dort leben und sie studieren wie klassische Musik in Europa. Es braucht Zeit. Ich bin nicht daran interessiert, diese Musik nachzuspielen. Ich muss sie nur riechen und mich an diesen Geruch erinnern, das reicht. Das geht mir mit jeder Musik so, denn ich möchte nicht von irgendetwas beeinflusst sein.“
Filmmusiken sind die einzige Ausnahme von dieser Regel. Solche Auftragsarbeiten, wie er sie in den letzten Jahren öfter angenommen hat, etwa für einen Dokumentarfilm über die Bildhauerin Niki de Saint Phalle, nutzt er oft als Stilübung.
„Man muss nicht wirklich seine eigene Musik komponieren, sondern etwas für die Handlung. Also kann man einen Valse Musette oder etwas Klassisches komponieren. Aber selbst wenn man das macht, klingt es am Ende nach einem selbst. Bei Dokumentarfilmen ist man freier und kann viel kreativere Musik anbieten als für einen ‚normalen‘ Film. Solche Musik zu Bildern und Skulpturen zu schreiben, fällt mir sehr leicht. Überhaupt inspiriert mich grafische Kunst mehr als andere Musik.“
Die wichtigste Inspirationsquelle seien für ihn jedoch die Musiker, mit denen er sich umgibt.
„Wenn ich etwas Neues komponiere, denke ich immer zuerst an die Musiker der Band, daran, was sie zur Musik mitbringen. Ich bin glücklich mit Musik, das ist sehr wichtig. Und ich habe immer sehr viel Glück mit Musikern gehabt: Ich hatte immer Musiker um mich, die ich sehr mochte. Es ist das Wichtigste für die Musik und das Leben. Ich könnte wahrscheinlich auch mit Musikern spielen, die ich nicht mag, aber das Resultat wäre wohl nicht sehr gut. Und ich habe genug zu tun, dass ich so etwas nicht mehr machen muss.“
Er erwähnt seine neueste Produktion für ECM, eine Aufnahme mit dem Geiger Dominique Pifarély und dem Cellisten Vincent Courtois.
Mit Dominique spiele ich seit 35 Jahren zusammen und auch mit Vincent schon sehr lange. Wir haben viele gemeinsame Projekte gemacht, also ist dieses Trio ein starker Teil unserer Geschichte in der Musik. Und sehr kollektiv – jeder von uns hat dafür komponiert. Zum Glück spielen wir jetzt auch viele Konzerte.“
Einige dieser Auftritte wird das Trio komplett unverstärkt und akustisch bestreiten.
„Cello, Geige und Klarinette sind perfekt dafür. Es macht uns mehr Spaß so. Ich spiele seit drei Jahren auch sehr oft mit einem berühmten französischen Barockensemble, dem Ensemble Amarillis – immer komplett akustisch, und es klingt immer wunderbar. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn du akustisch spielst, kommen die Musiker zu dir. Spielst du zu laut, bringst du die Musik zu den Menschen. Leise zu spielen ist für mich viel besser. Man findet jetzt öfter Musiker, die gerne ohne elektrische Verstärkung spielen. Aber es gibt jetzt auch immer mehr diese großen Festivals, bei denen man sehr laut spielen muss. Ich persönlich bin den Menschen lieber näher. Wir suchen es uns nicht aus, wir müssen überall und in allen Situationen, unter allen Voraussetzungen spielen können. Es ist Teil des Kampfes.“
Am 2. Februar 2017, seinem 64. Geburtstag, stellt Louis Sclavis ein neues Quartett vor – beim WDR 3 Jazz Festival im Theater Gütersloh. Er tritt dort mit Sarah Murcia am Bass, Christophe Lavergne am Schlagzeug und Sylvain Rifle am Saxofon im Rahmen der „European Jazz Legends“-Konzertreihe auf, präsentiert von WDR 3, Jazz in Gütersloh, Intuition und Jazz thing.