European Jazz Legends, Teil 20

Uschi Brüning & Ernst Ludwig "Luten" Petrowsky, Gunter Hampel, Wolfgang Engstfeld

Berlin, Göttingen, Düsseldorf. Drei Saxofonisten bzw. Multiinstrumentalisten und eine Sängerin, mit ganz unterschiedlichen Lebensläufen im Osten und Westen, aber mit dem Faible für Swing und dem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit als Gemeinsamkeit. Die vier Protagonisten, die unser Autor Götz Bühler und Fotograf Lutz Voigtländer besucht haben, sind prägende Figuren des deutschen Jazz.

Musikalisch wie privat seit Jahrzehnten ein Paar, lassen Uschi Brüning und Ernst-Ludwig „Luten“ Petrowsky nicht nur Erlebnisse etwa mit dem Zentralquartett, Manfred Krug und Michael Naura Revue passieren, sondern plaudern auch über aktuelle Projekte und Pläne – die sie zwar nicht reich machen, ihnen aber ein freies Leben ermöglichen.

Dass er es als einer von wenigen deutschen Jazzmusikern geschafft hat, auch im Mutterland des Jazz Anerkennung zu finden, erklärt Gunter Hampel sich retrospektiv damit, dass er niemanden kopiert, sondern etwas Eigenes erschaffen habe.

Wolfgang Engstfeld erinnert sich an die wilden Zeiten des Aufbruchs in den 60er- und 70er-Jahren zurück. Obwohl er selbst als Professor an der HfMT Köln lehrt, findet er noch heute, dass das Leben die beste Schule für einen Jazzmusiker ist.


Gunter HampelWolfgang Engstfeld

Uschi Brüning und Ernst-Ludwig „Luten“ Petrowsky

„Wir sind frei, darauf sind wir auch stolz.“

Uschi Brüning und Ernst-Ludwig "Luten" Petrowsky (Foto: Lutz Voigtländer)
„Unser ‚Home Sweet Home‘ ist tabu“, meinte Uschi Brüning gleich zu Beginn, charmant, aber bestimmt. Wir treffen das Paar also in der „Milchbar“, dem ostalgischen Restaurant am Funkhaus Berlin an der Nalepastraße. Zu Urzeiten eine Sperrholzfabrik, wurde das Areal an der Spree in Treptow-Köpenick ab Anfang der 50er-Jahre zur Radiozentrale der DDR. Etliche Studios und holzgetäfelte Konzertsäle beherbergt der Rotklinkerbau, nach der Wende gerne für Aufnahmen etwa mit Fettes Brot oder für Max Herres MTV-unplugged-Konzert genutzt. Aus der Plattenbauruine daneben funkte lange noch der Jugendsender DT 64. „Das war ja hier die Propagandamaschine des ganzen Landes“, sagt Ernst-Ludwig, genannt Luten, Petrowsky, der große Saxofonist des Zentralquartetts, seit 35 Jahren mit Uschi Brüning verheiratet. „Für uns Musiker war es hier auch eine Insel der Seligen, mit eigener Sauna, eigenen Ärzten, eigenem Konsum.“ Uschi Brüning ergänzt: „Wir hatten ja auch immer mal Freunde und Bekannte, die hier Studios hatten. Die sind inzwischen alle rausgeflogen.“ Auch uns droht man mit Rauswurf, wenn auch zunächst noch recht charmant, das Lokal müsse in einer Stunde für den Umbau zum Abendessensbetrieb geschlossen werden, einige Besucher des „Gallery Weekend“ und einer Veranstaltung mit Ray Cokes hätten schon reserviert.

Schon zu Hause in Leipzig hat Uschi Brüning gesungen. Also wollte sie nach der Schule Musik studieren.

„Bei mir ging es mit Jazz los, als ich noch Kind war. Ich war Verbraucher des Rundfunks. Jedenfalls hörte ich da Ella oder auch mal Caterina Valente. Das hat mir besonders gefallen, obwohl ich noch nicht wusste, dass es so ein Genre gibt, das Jazz heißt. Für mich war das Musik. Es war nie so, dass ich gesagt hab: Jazz oder sterben. Mit dem Studium hat’s nicht geklappt, da bin ich durchgerauscht. Andere waren viel weiter. Also habe ich eine Ausbildung zur Justizbeamtin gemacht. Am Kreisgericht durfte ich dann Pfändungs- und Zahlungsbefehle entgegennehmen. Und Ehescheidungsanträge. Deshalb wollte ich auch lange nicht heiraten, aber er hat es dann ja doch geschafft.“

Er: „Wenn die das gewusst hätten, da am Gericht, dann hättest du auch hartnäckigen Tätern Trost spenden können, mit einem kleinen Blues oder so. Gegen ein entsprechendes Entgelt.“

Sie: „Nicht in der DDR. Ich hatte ja während der Lehre ein Verbot, weil ich auch West-Schlager gesungen habe. Da waren die ganz streng.“

Zwischenfrage: „Was waren das für konspirative West-Schlager?“

Sie: „Na, zum Beispiel ‚Die Liebe ist ein seltsames Spiel‘.“ Luten lacht.

Gemeinsam und jeder für sich haben Uschi Brüning und Luten Petrowsky einen Großteil der Jazzgeschichte in der DDR miterlebt und geprägt. Luten, der Autodidakt, der schon ab 1957 im Orchester Eberhard Weise, der ersten Bigband der DDR, musizierte, war 1962 Mitbegründer des daraus entstehenden Manfred-Ludwig-Sextetts („Es war die Zeit des Bebop, und das haben wir auch zelebriert.“), aus dem sich im Jahr darauf die Modern Jazz Big Band von Klaus Lenz entwickelte. Anfang der Siebziger war er zuerst auch mit Ulrich Gumpert und Günter Baby Sommer im Jazz-Rock-Flaggschiff Gruppe Sok zu hören, verlieh ab 1973 mit diesen Kollegen und dazu Conny Bauer „unter dem Namen Synopsis dem Begriff ‚Free Jazz‘ eine neue Dimension“, wie es in einem Text zur Wiederveröffentlichung ihres AMIGA-Debüts heißt. Nach zahlreichen Uli Gumpert Workshop Bands, dem Jazz-Werkstatt-Orchester und natürlich Auftritten mit der Klaus Lenz Big Band, auch beim „Jazz Jamboree“ in Warschau, entwickelte sich 1984 daraus das nicht nur musikalisch mutige Zentralquartett.

„Dixieland war gestattet, und die hatten viele Engagements. Das waren ja zum Teil auch Zahnärzte. Mich haben die Free Jazzer beleidigt, weil ich ja einen Hang zu Schnulzen hatte. Für die anderen war ich der, der keinen geraden Ton rausbekam. Der Manfred Krug hat später mal zu Uschi gesagt: ‚Kannst du deinem Alten mal sagen, dass ich’s gut fand, dass er auch so gegen den Honecker stichelte. Aber jetzt ist Honecker doch nicht mehr, kann er da nicht auch mal einen sanften Ton riskieren, dass man da auch was von hat? Oder hat der Free Jazz ihm so ins Gehirn geschissen, dass er nur noch quietschen kann?‘ Originalton Manfred. Na, die Gräben (zwischen den Stilen – Anm. d. Aut.) gab es schon auch in der DDR. Aber als der Free Jazz erfolgreich war und die Free Jazzer raus durften, da wollte auf einmal jeder Liedermacher Jazzmusiker sein. Also da wollten die Gräben dann zugeschüttet sein. Ich war ja immer dazwischen.“

Das Restaurant schließt, wir werden hinauskomplimentiert. Nach kurzer Suche begegnet uns eine Frau mit Hund, die hier noch ein Musikstudio betreibt. Der erste Stock des Haupthauses werde gerade saniert, die dort entstehenden Coworking Spaces seien offen. Gemütlich ist es nicht, aber wenigstens warm und trocken.

„Für mich bot Jazz eine Alternative“, erinnert sich Luten Petrowsky an seine erste Begegnung mit dieser Musik. „Die Nazis hatten immer so Märsche, so zackige, die mochte ich. Dann sind wir von den Russen besetzt worden und hörten deren tolle Gesänge. Wobei die deutsche Folklore ja auch ein großer Scheißhaufen ist im Vergleich zu dem, was da im Osten und Westen passiert. Die Russen, die singen ja sehr schön, aber die swingen ja nicht, und das ist mir sehr wichtig. Ein kleines bisschen von diesem Element Swing sollte es haben. Als die Amerikaner mit dem legendären ‚In The Mood‘ kamen, hab ich erst richtig aufgehorcht – und das mag ich heute noch. Bin immer noch fasziniert von diesem älteren Swing und bin auch stolz darauf, dass ich da keine Grenzen kenne. Eigentlich habe ich immer alles gehört. Ich hab Ornette genauso gemocht, noch mehr seine Philosophie, dass man nicht nach dem Schema gehen soll, sondern das spielt, was man innerlich hört, und sich nicht aufgibt. Es gibt gar keinen Free Jazz, weil das so ein doppelt gemoppelter Ausdruck ist. Jazz impliziert ja schon Freiheit.“

„Eigentlich“, meint Luten und lacht dabei unter dem Mützenschirm hindurch, „gibt es nur einen Free Jazzer – und das ist Louis Armstrong. Louis hat eine Freiheit mit den Märschen gehabt und hat ja auch den Scat-Gesang erfunden, weil er mal seine Noten verloren hat. Insofern ist er ein Free Jazzer. Charlie Parker ist ganz unerreichbar, und dann bin ich noch ein bisschen mehr an Phil Woods hängen geblieben, weil der so einen Ton hatte. Aber noch mehr sind es Miles Davis und Chet Baker. Da bedarf es nur eines Tones und man hört die raus – und ich fang an zu heulen. Ich kann das nicht immer hören, weil mir das echt zu viel wird. Wenn es überhaupt zwei Dimensionen gibt zwischen Trauer und Übermut, dann fühle ich die da gleichzeitig. Auf der einen Seite tut’s weh, und auf der andern tut’s gut, und dann ist man nur noch mit seinen eigenen Tränen beschäftigt. Ist bis heute so geblieben. Hab auch gedacht, wenn ich älter werde, kann ich das an den Nagel hängen. Aber das wird auch mit dem Alter nicht besser.“

Manfred Krug wird oft erwähnt, immerhin kannte und schätzte man sich seit Ende der Sechziger, auch aus den gemeinsamen Auftritten mit der Klaus Lenz Big Band. 2015 verschaffte das gemeinsame Duettalbum „Auserwählt“ Uschi Brüning ihren einzigen Chartserfolg – und das trotz zahlreicher Seventies-Singles, die heute noch Spaß machen wie etwa „Hochzeitsnacht“ mit der B-Seite „Einer wie Du“.

„Ich hab Manfred Krug viel zu verdanken, kann man nicht anders sagen“, meint sie. Eher überraschend kommen wir auf Michael Naura zu sprechen. „Nach seinem Tod kam erst raus, dass er echt auf mich gestanden hat, obwohl er mich erst mal immer so angefrotzelt hat“, erzählt Luten. „Was hat er noch gesagt? ‚Also, wenn du nicht aufpasst, dann landet deine Art von Musik auf genau demselben Müllhaufen wie euer Trabant.‘ Solche Nummern. In der Naura-Box ist ja auch die Geschichte von dem ‚Sandsack zu viel‘ und unserer ersten, begleiteten Begegnung 1978 beim NDR drin. Ich konnte das gar nicht wissen, aber Michaels Frau hat mir nach seinem Tod erzählt, wie sehr er meine Art von Musik mochte und wie oft er von mir gesprochen hat. Du bist der erste, der das Geheimnis erfährt: Ich bin dabei, die Sachen von Naura zu nehmen und für unser Duo auszuschlachten.“

Uschi: „Soll ich jetzt so singen, wie Naura spricht? Das ist noch nicht beschlossene Sache.“

Luten: „Wir haben neulich bei einem Auftritt im Duo ein Stück von Naura mit Leszek Zadlo genommen und sind nach vier Minuten dazu eingestiegen. Ich bin dabei, ihn noch weiter anzuzapfen.“

Zu Tisch mit Uschi Brüning und Ernst-Ludwig "Luten" Petrowsky (Foto: Lutz Voigtländer)
Sie arbeiten an einem Buch, einer Biografie und „immer wieder an einer Reinkarnation“ ihres Duos. „Das ist immer noch das Abenteuerlichste, so ohne Geländer“, meint Uschi Brüning. Außerdem hören sie Aufnahmen aus der DDR von und mit Luten durch, die ein befreundeter Produzent veröffentlichen will. „Er will gerne wissen, was ich davon erinnere, aber ich hab keine Ahnung mehr. Was hier im Hause so stattgefunden hat, ist nicht zu glauben.“ Außerdem gibt es da noch ein Projekt mit einem Schlagzeuger und eines mit der Musik von Ornette Coleman.

„Aus jeder Ecke kommt immer mal ein neuer Impuls“, meint Uschi Brüning. „Das Tragische ist, dass wir so viel zu tun haben und dass wir deshalb manchmal abends nicht mehr in unser Studierstübchen gehen, um an neuen Ideen weiterzuarbeiten, sondern dass wir dann oft eben keine Kraft mehr dazu haben.“

„Darf ich fragen, zu wem Sie gehören?“, fällt uns unvermittelt ein bärbeißiger, mehr als unterschwellig aggressiver Herr, Typ Hausmakler mit Napoleon-Komplex, ins Wort. Er stellt sich nicht vor, hört nicht auf Erklärungen, wer hier was irgendwann vorher gemacht hat, ist ihm egal. Er wedelt mit dem Handy, als wäre es eine Waffe, zieht mit einem über die Schulter geworfenen „Ach, dann machen Sie eben weiter“ ab. Kurz darauf ist er wieder da, noch aufgebrachter, und wirft uns endgültig raus. Weder Erklärungen noch Entschuldigungen greifen. Wir rücken ab, versuchen uns gegenseitig zu beschwichtigen. Wenn es nicht so offensichtlich wäre, könnte man hier eine hübsche Metapher für den unbarmherzigen Kapitalismus sehen. Uschi Brüning sagt nur: „Das wäre früher nicht passiert.“ In ihrem kleinen blauen Hyundai chauffieren uns die beiden, herzlich und freundlich, wie sie sind, zum nächstgelegenen S-Bahnhof im Nachbarkiez Schöneweide, wo auch ihr „Home Sweet Home“ zu finden ist. Die Stimmung ist gedrückt.

„Die, die viel Geld haben, sind ja auch nicht immer glücklich. Deshalb haben wir gar nicht erst mit Geld angefangen“, scherzt Uschi Brüning. „Wir müssen vom Zufall leben. Wir sind frei, darauf sind wir auch stolz.“


Gunther HampelWolfgang Engstfeld

Text
Götz Bühler
Foto
Lutz Voigtländer

Veröffentlicht am unter 119, Feature, Heft

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