European Jazz Legends, Teil 20

Uschi Brüning & Ernst Ludwig "Luten" Petrowsky, Gunter Hampel, Wolfgang Engstfeld


Uschi Brüning & Ernst Ludwig „Luten“ PetrowskyWolfgang Engstfeld

Gunter Hampel

„Ich bin unabhängig, mich kann keiner mehr ärgern.“

Gunther Hampel (Foto: Lutz Voigtländer)Gunter Hampel fasziniert schon mit seiner Erscheinung. Mindestens einen Meter neunzig groß und sehr schlank, die weißen Haare wild im Gesicht, mit immer noch klarem, durchdringendem Blick. In engen Jeans, Hoodie, Daunenjacke und Turnschuhen öffnet der 79-Jährige die Tür. Nach Stationen in Antwerpen und Amsterdam in den 60er-Jahren, bald darauf lange in New York und später auch Berlin, lebt der Musiker und Komponist jetzt wieder in Göttingen, in einem Mehrfamilienhaus, das er mit seinem Vater gebaut hat.

„Der war Dachdecker, aber auch ein begnadeter Musiker. Aber es war damals wie heute: Wenn du was auf‘m Kasten hast …“ Er zieht die Augenbrauen hoch, was wahrscheinlich „du weißt schon“ bedeuten soll, und setzt neu an, mit dieser jungenhaft enthusiastischen Stimme. „Mein Großvater war ein Komponist. Der hatte ein Dachdeckungsgeschäft und hat auch meinen Vater darin ausgebildet. Und der wollte mich auch darin ausbilden. Aber da ich noch zwei ältere Brüder hatte, meinte er: ‚Du wirst jetzt Statiker.‘ Weil er mit denen den meisten Ärger hatte. Obwohl er wusste, was ich mit der Musik machte und dass ich es auch draufhatte.“

Wir machen es uns im ersten Stock gemütlich. Zwischen aneinandergelehnten Leinwänden mit den blumigen Gemälden des Hausherrn, den vielen Platten und CDs seines eigenen Birth-Labels, zahlreichen Fotos, die ihn neben Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder, Thelonious Monk oder seiner verstorbenen Ehefrau, der Sängerin Jeanne Lee, zeigen, stehen zwei Sessel, daneben ein Tisch mit zwei großen Oxford-Wörterbüchern und ein Kassettenrekorder. Gunter Hampel packt drei Wasserflaschen mit der Aufschrift „Geduld-Ich“ aus, für jeden eine, und beginnt zu erzählen. Über Musik und dass sein Vater die Söhne früh ans Klavier gesetzt und ihnen gezeigt hätte, „wie das abgeht“, nämlich auch kleine eigene Kompositionen weiterzuentwickeln, „aus der Fantasie zu spielen“, sprich: zu improvisieren.

„Der Jazz wurde mir hier auf den Hof gebracht. Die Fügungen fanden im Nachhinein ganz bewusst statt. Für mich ist der Zweite Weltkrieg nur passiert, damit der Jazz hier direkt in meinen Garten gebracht wurde. Ich meine, wenn man jetzt ein Poet wär, ein Schriftsteller, könnte man das alles so fügen.“

Weil das Telegrafenbauamt im Hof der Hampels eine große Halle als Schaltzentrale betrieb, rückten 1945 zu Kriegsende amerikanische Soldaten an, die Leitungen verlegten, um die Kommunikation zur in Richtung Berlin vorrückenden Front zu ermöglichen. Zwischendurch schliefen sie in ihren Lastwagen, scherzten mit den „halb verhungerten“ Kindern der Nachbarschaft, die sie „nach Keksen, Schokolade und Chewing Gum plagten“, oder machten Musik.

„Ich hatte keine Gitarre, sondern so’n Klavier, das man mit sich rumtragen konnte: ein Akkordeon. Das hatte ich immer dabei. Und als ich eines Tages damit spielte, kam da ein Schwarzer und spielte mit seiner Gitarre mit. Dem musste ich nicht sagen, was für Akkorde das sind, sondern der hat sich auf sein Gehör verlassen, und das war dermaßen geil, da bin ich jede freie Minute zu den Amis hin. Der mit der Gitarre hieß Joe und hatte auch so geile Musik bei AFN, ‚Voice of America‘ mit Willis Conover. Ich bin jeden Morgen mit dicken Augenrändern in die Schule gekommen. Für mich war das gut, denn das hat mir den ganzen Nazi-Scheiß ausgetrieben.“

Der 7-jährige Gunter schwärmte für Louis Armstrong. „Da ist mein Herz aufgegangen.“ Aber auch die anderen Musiker dieser neuen Welt faszinierten ihn, von Benny Goodman und Glenn Miller bis Count Basie und Duke Ellington.

„Der Hitler hat ja damals die totale Übernahme mit uns gemacht, so wie das jetzt ja die Amerikaner mit uns machen. Zuerst wurden die Radiosender von Amerikanern besetzt, und das Erste, was kam, waren die ganzen Broadway-Komponisten. Die wirkliche Jazzmusik spielt sich auf einem ganz anderen Level ab. Das hab ich glücklicherweise, weil ich ein Original bin, früh gemerkt und bin daher auch anders anerkannt worden. Die meisten von hier haben jemanden kopiert, da haben die Amerikaner nur mit den Achseln gezuckt: ‚Wir haben doch das Original hier!‘ Auf mich sind die Amerikaner ja auch schon durch ‚Heartplants‘ aufmerksam geworden. Das war das, was ich wenigstens dem Berendt gegenüber durchdrücken konnte, dass wir unsere eigenen Kompositionen spielen.“

Das Album „Heartplants“ des Gunter Hampel Quintet, 1965 bei SABA erschienen, gilt als erste deutsche Avantgarde-Jazzplatte. Es war der vorläufige Höhepunkt seiner musikalischen Entwicklung, die ihn nach dem Architekturstudium schon 1958 auf die Bühnen der deutschen Jazzclubs brachte. Ein Gastauftritt mit den Spree City Stompers in Göttingen, einer Dixielandband, die auch Swing spielte, brachte eine Einladung in die Eierschale nach Berlin. Mit Freunden aus der alten Heimat, etwa Jaki Liebezeit aus Schwäbisch Gmünd, machte er „außergewöhnlich gute Musik“, auch im Barett in Hamburg oder der Tarantel in München, weiter bis nach Holland oder sogar Spanien. Die Heartplants-Band entstand 1963 in Düsseldorf, wo ihn Klaus Doldinger bat, seinen Platz im Ensemble des Musicals „Girl Crazy“ zu übernehmen. Er holte sich Alexander von Schlippenbach, der in Köln auf Lehramt studierte, dazu den Bassisten Buschi Niebergall, den Saxofonisten Olaf Kübler, der später bei der Aufnahme durch Manfred Schoof „ersetzt“ wurde, und den belgischen Schlagzeuger Pierre Courbois, den Hampel, als Jurymitglied, gerade beim Düsseldorfer Amateurwettbewerb zum Sieger gekürt hatte.

„Ich habe von Anfang an gesagt, dass wir diesen Scheiß nicht mitmachen und eben nicht diese Standards spielen. Und dann haben wir es als Erste gewagt, eigene Musik in Deutschland zu machen.“

Dass er selbst „Heartplants“, auf der er Vibrafon und Flöte spielt, als nicht ganz so frei wahrnimmt, wie allgemein getan wird, liegt am Einfluss des Produzenten Joachim-Ernst Berendt.

„Der Berendt hatte uns alle dermaßen im Griff. Na ja, der war der King. Der hat das Jazzbuch geschrieben, das heute noch einmalig ist. Der hatte so viel Abstand von dem, was wirklich abgegangen ist, dass er das so verklärt hat. Aber dadurch ist es auch verständlich. Ich empfehle das nach wie vor. Weil es einen guten Überblick über die verschiedenen Stile gibt, die Protagonisten, das hat sonst keiner geschrieben.

Die meiste Literatur über Jazzmusik sitzt in den Händen von Idioten. Weil die so weit weg sind und dann ein Buch schreiben mit ihren eigenen unbedarften Kenntnissen, die ja auch an sie so überliefert worden sind. Ein schwarzer Musiker drüben, der in seinem Leben so bekackt worden ist, der erzählt denen doch nichts. Ich hab irgendwie durch meine Fähigkeiten der Musik und vielleicht auch durch die Art und Weise, wie wir leben, das Vertrauen vieler dieser schwarzen Musiker gewonnen. Mit einigen von ihnen habe ich ja auch gespielt und aufgenommen wie Anthony Braxton, Marion Brown, Steve McCall, Leo Smith, John Tchicai, Archie Shepp. Miles Davis, Mingus, Monk, das sind alles meine Freunde. Weil ich sie nicht kopierte. Beinahe habe ich mit Jimi Hendrix aufgenommen, aber der ist dann gestorben.“

Natürlich erinnert er sich an die alten Zeiten, gerne sogar. „Ich hab’s ja erlebt, es ist ja da drin. Ich muss nur die richtige Melodie finden, um es abzurufen.“ Gunter Hampel hat einen „direkten Bezug zu Gott“, er lebt mit ihm, wie er sagt.

„Ich habe oft gemerkt, dass wir hier nicht ganz alleine sind. Durch meine Kunst, meine Musik, meine Existenz. Es gibt Dinge, die wir längst nicht wissen. Menschen, die durch Musik einen offeneren Geist bekommen, die verstehen das auch.“

Oft spricht Gunter Hampel davon, dass etwas „ein Wink von oben“ war. Sein Treffen mit der Sängerin Jeanne Lee etwa, der Liebe seines Lebens, seiner späteren Partnerin und Ehefrau und der Mutter seiner beiden Kinder Ruomi und Cavana.

„Ich habe Jeanne hier in den Sechzigern im Fernsehen gesehen, da war plötzlich eine Jazzsendung vom Joachim-Ernst Berendt mit Ran Blake – und der Jeanne. Da saß sie so auf einem Barhocker, hatte einen roten Schal um und sang ‚Laura‘. Das hat mich so auf den Fußboden gelegt, das war spitze! Ich hab nie gedacht, dass ich sie mal irgendwo … Das war so weit weg von mir.“

Er lernte sie schließlich 1966 in Holland kennen, wo er ein Album für das New Yorker Free-Jazz-Label ESP-Disk aufnahm, nachdem Benny Goodman die Hampel-Band mit Willem Breuker, Pierre Courbois und Piet Veening am Bass in seiner Show im amerikanischen Fernsehen gezeigt hatte. Ebenfalls in Holland und im selben Jahr entdeckte er die Makrobiotik für sich, nach deren Regeln er sich seitdem ernährt.

„Wenn du unser Essen hier isst, bist du mit 50 reif fürs Krankenhaus. Die Leute, die hier ganz früher regiert haben, hatten ja noch kein Fernsehen, da haben sie die Leute übers Essen willfährig gemacht, über die Kartoffeln und die Nachtschattengewächse und so. Das ist nun mal so. Wir tun so, als seien wir die Beherrscher der Welt, aber wenn man die Germanen mitzählt, sind wir ja erst seit 2.000 Jahren dabei. In China haben die schon viel länger Kultur.“

1969 zog Gunter Hampel nach New York, wo er anfangs bei Jeanne Lees Familie in der Bronx lebte. Roy Ayers gehörte zu den Ersten, die ihn „gediggt“ haben. Ayers bot ihm sein Vibrafon an, weil er noch kein eigenes hatte. „Und als der Miles Davis zum ersten Mal hörte, hat er ja auch John McLaughlin zum ersten Mal gehört. Den hatte ich da gerade entdeckt.“ Noch heute hat Hampel eine Wohnung in der 11th Street zwischen 2nd und 3rd Avenue im East Village für mietstabilisierte 500 Dollar. „Die Nachbarn zahlen 3.500.“

Im Duo mit Jeanne Lee oder mit Bigbands wie der Galaxie Dream Band oder seinem New York Orchestra trat er oft in Jazzclubs wie dem Sweet Basil auf und feierte Erfolge in der alten Heimat, etwa beim Jazzfest Berlin, in Donaueschingen, dem Free Jazz Meeting von Berendt in Baden-Baden, dem NDR Jazzworkshop von Michael Naura oder den Frankfurter Jazztagen. In einem Heft namens „Verbal Introduction“, das Hampel 1994 auf 73 Seiten drucken ließ, finden sich jede Menge Rezensionen und Porträts, auch von Nat Hentoff, Leonard Feather oder Robert Palmer. Dazu seine zahlreichen Platzierungen in Kritikerpolls wie dem von Downbeat. Andrian Kraye schrieb in der SPEX über ein Album vom Gunter Hampel New York Orchestra: „Ohne Übertreibung kann man behaupten: ‚Fresh Heat‘ ist eine der intensivsten und genialsten Platten, die jemals produziert wurden.“

Bei Gunther Hampel (Foto: Lutz Voigtländer)

„My Gunter Life“ soll ein Buch über sein Leben und seine Erfahrungen heißen, an dem Hampel im Moment schreibt.

„Vielleicht bringe ich das selber raus, weil andere das immer redigieren wollen“, sagt er. „Jeder, der im Jazz arbeitet, hat eine bestimmte Vorstellung davon. Das finde ich ja auch geil. Ich bin unabhängig, mich kann keiner mehr ärgern. Die Jazzmusik ist dafür da auf der Welt, dass sich Dinge klären, dass sie klar werden. Und dass sie auch Allgemeingut sind und dass das Soziale in dieser Musik respektiert wird und dass vor allem dieser beschissene Rassismus aufhört.“

Auf der Bühne findet er Demokratie nur bedingt gut.

„Musikalisch finde ich es besser, wenn man nicht nur um seinen Platz kämpft, sondern auch auf die anderen hört. Letzten Endes entscheidet doch auch der spirituelle Gehalt einer Musik, ob etwas beim Menschen hängen bleibt. Vieles, was momentan gemacht wird, klingt gut, hat aber keinen spirituellen Wert. Die arbeiten mechanisch etwas ab, was sie selber gar nicht mehr verstehen. So wird der originale Jazzeinfluss, der Spirit, die Natur, alles, was uns auszeichnet, weggenommen, und es wird eine mechanische Sache, wie die klassische Musik.“

Sein „European Jazz Legends“-Konzert im Theater Gütersloh am 17. Juni 2017, präsentiert von WDR 3, Jazz in Gütersloh und Jazz thing, bestreitet er mit seiner aktuellen Band, „dem Besten, was ich gerade habe“: seiner Tochter Cavana Lee-Hampel, die „seit ein paar Jahren dabei ist, seit sie gemerkt hat, dass sie das Talent ihrer Mutter hat“, dem Saxofonisten Johannes Schleiermacher, bekannt von seinem Woima Collective, Andromeda Mega Express Orchestra, Max Andrzejewskis Hütte oder Shake Stew, dem dänischen Bassisten Andreas Lang, ebenfalls Mitglied von Hütte und zahlreichen Berliner Ensembles mehr, und dem Schlagzeuger Bernd Oeszevim, auch bekannt von der Band „Ohne 4 Gespielt Drei“. Gunter Hampel selbst wird Flügel, Vibrafon, Bassklarinette, Flöte und vielleicht Perkussion spielen.

„Was für Stücke wir in Gütersloh spielen, kann ich nicht sagen. Das ist noch weit hin, und die Band entwickelt sich ja ständig weiter. Und ich schreibe ständig weiter Stücke. Wenn wir da sind, werden wir etwas machen, was wir jetzt nicht wissen. Vielleicht spielen wir auch Stücke, die es schon gibt, vielleicht nicht.“


Uschi Brüning & Ernst Ludwig „Luten“ PetrowskyWolfgang Engstfeld

Text
Götz Bühler
Foto
Lutz Voigtländer

Veröffentlicht am unter 119, Feature, Heft

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