European Jazz Legends, Teil 20

Uschi Brüning & Ernst Ludwig "Luten" Petrowsky, Gunter Hampel, Wolfgang Engstfeld


Uschi Brüning & Ernst Ludwig „Luten“ PetrowskyGunther Hampel

Wolfgang Engstfeld

„Herrgott, wir haben das alles aufgesaugt!“

Wolfgang Engstfeld (Foto: Lutz Voigtländer)

„Wer in Düsseldorf etwas auf sich hält, wohnt in Oberkassel. Hier regiert die Oberklasse, die Preise spielen in einer anderen Liga“, wusste das Handelsblatt schon vor Jahren. Wolfgang Engstfeld, eine große Stimme am Saxofon und auch als Dozent an der Hochschule für Musik und Tanz Köln enorm einflussreich, wurde hier geboren, als linksrheinisch alles andere als ein Prädikat war. Sein Großvater, ein Metzger, ließ 1909 das Haus bauen, in dem der 66-Jährige heute noch wohnt, Tür an Tür mit seinem langjährigen WG- und Bandpartner, dem Schlagzeuger Peter Weiss (siehe Jazz thing 108). Die Arztpraxis seines Vaters lag nur ein paar Straßen weiter, kurz vor den Obstwiesen und den Kuhweiden, heute dicht bebaut. Wenn der Zirkus in die Stadt kam, konnten Wolfgang und seine drei Geschwister die Elefanten beobachten, wie sie „Rüssel an Schwanz, Rüssel an Schwanz“ von der Bahnstation die Straße entlanggetrieben wurden. Schon damals angelte er an den Rheinwiesen, wenn auch keine Einundsiebzigzentimeter-Rapfen wie neulich erst.

Der sieben Jahre ältere Bruder war es, der den Jazz in die getrübte Nachkriegsidylle brachte. „Der hatte ein kleines Jazzorchester, Oldtimejazz, und spielte mir auch ständig Platten vor. Meine Eltern spielten beide Klavier, eigentlich jeden Tag.“ Die Kinder bekamen Klavierstunden von Onkel Josef, einem Dirigenten am Operettenhaus, allerdings nur ein Jahr lang, „bis die Burkard-Schule durch war“. Jazz mochte er, Klassik auch, aber mit 13 waren Versprechungen wie „She Loves You“ von den Beatles attraktiver.

„Ich fing an, am Platz rumzuhängen mit den Mädels und so. Da waren zwei Burschen, die richtig gut Beatles-Songs auf der Gitarre spielen und singen konnten. Wir beschlossen, eine Band zu gründen. So machte man das damals: Man gründete eine Band und spielte. Allerdings war ich da ja noch ohne Instrument.“

Gitarre mochte er wegen der Barrégriffe nicht, auch Schlagzeug und Trompete wurden ergebnislos ausprobiert. Der ältere Bruder gab den entscheidenden Anstoß.

„Da gibt es ein gebrauchtes polnisches Saxofon für 180 Mark. Wünsch dir das doch zu Weihnachten.“ Zum Glück hatte der Zoohändler ein Einsehen, bei dem Wolfgang eigentlich schon ein Aquarium bestellt hatte. „Am ersten Weihnachtstag bin ich runter in den Keller gegangen und habe ‚Michael Row The Boat Ashore‘ gelernt und es gleich danach mit der Band gespielt.“ Er lacht. „Also hatte ich wohl Talent.“

Die Band traf sich von jetzt an täglich, bald beherrschte man neben den Beatles-Hits auch Gassenhauer wie „La Bostella“.

„Musik muss ja auch nicht alles sein. Aber damals war sie natürlich alles. Wir haben auch viel Straßenmusik gemacht, in der Schildergasse in Köln. Wenn uns da die Polizei verfolgt hat, buhte das Publikum. Es waren schließlich die 60er-Jahre! Was da los war: Beatles, Stones, Hippies, ban the bomb, Studentenrevolte, die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Wir waren ja eigentlich nur frech, hatten keinen Überbau. Aber die alten Nazis, die noch unsere Lehrer waren und gerne mal den Siegelring nach innen drehten, bevor sie einem eine Ohrfeige gaben, konnten wir doch noch ärgern.“

Einflüsse waren zahlreich, von Coltrane und Miles bis zu Charlie Parker, Ben Webster, Coleman Hawkins, Phil Woods und Jimmy Heath. Auch die Lokalmatadoren Wilton Gaynair, George Maycock und Big Fetchit spielten eine entscheidende Rolle.

„Die kamen ja alle aus derselben Straße in Panama und wurden Stars in Düsseldorf. Wenn man mit denen gespielt hat, konnte man viel verstehen. Ich war zu hastig, Fetchit aber war sehr laid-back als Drummer. Wenn man da bei ‚Moanin‘ nicht mitgegangen ist, war man verloren. Schönen Gruß von der Realität!“

Die durchreisenden US-Stars, die aufgrund ihres holländischen Tour-Veranstalters Wim Wigt ihre Off-Tage im Downtown in der Altstadt spielten, taten ihr Übriges. Begeistert gibt er ihre Namen in den Raum: Dexter, Joe Henderson, Blakey, Slide Hampton, Jimmy Heath, Cedar Walton mit Sam Jones und Billy Higgins.

„Herrgott, wir haben das alles aufgesaugt! Man steht ja oft unter dem Druck, etwas Neues machen zu müssen. Ich fühlte mich dazu nicht berufen. Wenn Charlie Parker das macht, ist das etwas anderes. Da kommt es aus der Musik, nicht aus der Überlegung. Free Jazz ist okay, weil man da auch emotional dabei ist.“

Er wirft einen Seitenblick auf sein Tenorsaxofon auf dem Küchentisch, ein Selmer Mark VI, das er spielt, seit er es mit 16 für sechshundert Mark gebraucht gekauft hat.

„Ich bin mit dem Ding groß geworden und hab versucht, so zu klingen, wie ich dachte, wie das klingen muss. Matthias Nadolny hat mir neulich aus der Seele gesprochen: ‚Ich mache das Ganze doch nur, um straight ahead zu spielen.‘ Wenn man gut straight ahead spielt – wunderbar! Mit Melodien, harmonischem Background. Egal, wie man es bezeichnet, Bebop oder Hardbop, selbst die moderneren Spielweisen von Garbarek sind für mich straight ahead. Und da bin ich ja eigentlich, wo ich jetzt bin. ‚It don’t mean a thing if it ain’t got that swing‘ – verkürzt!“

Nach dem Abitur wollte er Musik studieren. „Was sonst?“ Allerdings wurde das Saxofonstudium im deutschsprachigen Raum nur in Graz angeboten. Er packte seine Bücher und das Instrument ein und studierte wenig später in der Hauptstadt der Steiermark, wo auch Eje Thelin und Dieter Glawischnig lehrten und er bald in der Lehrerband mitspielen durfte. Karlheinz Miklin kennt er noch als Kommilitonen.

„Ich wohnte in einer kleinen Laube, auf einer Obstwiese hinter einem Reetdachhaus. Da gab es kein fließendes Wasser, nur kaltes im Hof. Einmal die Woche bin ich in den Augarten in die Badewanne gegangen. Aber dafür waren die Wände so dick, dass ich bis morgens um fünf Krach machen konnte.“

Nach einem Jahr kam er in den Sommerferien zurück nach Oberkassel und lernte dort den Drummer Heinrich Hock und den Trompeter Uli Beckerhoff kennen, mit denen er die Band Staudamm gründete. Daraus entwickelte sich bald Jazztrack, ein Quintett mit Sigi Busch am Bass und dem belgischen Keyboarder Michel Herr, später abgelöst von Christoph Spendel.

„Ich ließ alles in Graz zurück, auch meine Sartre-Bücher, und begann, mit denen zu spielen. Das waren schon harte Bedingungen: zu fünft für 450 Mark nach Nürnberg, schlimme Hotels und ein gestimmtes Klavier war die Ausnahme. Aber 120 Gigs im Jahr! Ich finde ja heute noch, dass man nicht Jazz studieren muss. Geh raus ins Leben! Mach was!“

1975 brachte Sigi Busch das „Real Book“ aus Berklee mit, ließ 600 Exemplare dieser inoffiziellen Standards-Noten drucken und begann, sie Bekannten und Kollegen anzubieten. Als die Auflage ausverkauft war, übergab er das Geschäft seinem Bandkollegen.

„Vorher gab es Vokabelhefte, streng geheim, in denen sich Dixielandmusiker Notizen zu Akkordfolgen von Standards gemacht hatten. Wolfgang Hefter, ein Schuldirektor und sehr guter Amateurpianist, hatte auch 200 Standards rausgehört. Aber das ‚Real Book‘ war natürlich noch mal was anderes. Dass ich das verkaufte, hat sich rumgesprochen. Ich bekam jeden Tag Bestellungen aus ganz Europa und bin immer mit einem Stapel Pakete zur Post gelaufen.“

Bei Wolfgang Engstfeld (Foto: Lutz Voigtländer)

Projekte gab es damals nicht. Man spielte in einer Band. Engstfelds nächste hieß Changes, gefolgt vom Wolfgang Engstfeld/Michel Herr Quartett, bei dem auch der schwedische Bassist Palle Danielsson und der in Schweden lebende amerikanische Schlagzeuger Leroy Lowe mitmachten. Mit seinem Wohnungsnachbarn und dem Bassisten Gunnar Plümer ging er in den Achtzigern als Engstfeld–Plümer–Weiss auf Tour, gerne mit hochkarätigen Gästen wie den Trompetern Terumasa Hino oder Randy Brecker. Daraus ergab sich 1988 das Engstfeld-Weiss-Quartett.

„Heute spielen die ja kaum noch, selbst an der Hochschule“, weiß der Professor für „Jazz Saxophon“ an der HfMT Köln. „Nicht alle, aber viele. Die einen sind zu gut, die anderen zu schlecht, und am Ende spielen sie zu Hause zu Aebersold-Platten.“ Er macht ein Geräusch, ein „Arrgh“, irgendwo zwischen Hundebellen und bärigem Zähneknirschen. „Wenn es mal ein ‚Projekt‘ gibt, wird geprobt, eine CD aufgenommen, und danach hoffen sie, über einen Manager Gigs zu bekommen. Das war früher andersrum.“

Das deutlich andere Lebensgefühl der 70er-Jahre zeigt auch der launige Umweg zu Wolfgang Engstfelds erstem Sopransaxofon.

„Wir waren mal wieder nach dem Spielen in der Altstadt versackt, mein Bruder, Peter (Weiss) und ich. Dann wollten wir weg, nach Süden. Eigentlich nach Südamerika, aber mein Bruder meinte: ‚Seid ihr denn geimpft?‘ Ach ja! Dann vielleicht erst mal nach Gibraltar. Rüber zum Hauptbahnhof in den nächsten Zug nach Basel. Dort hat mein Bruder aufgegeben. Ich meinte zu Peter: ‚Ich bin noch nie im Flugzeug geflogen, fliegen wir doch nach Paris!‘ Dort hatten wir dann die Idee, zu Selmer zu gehen und ein Sopransaxofon zu kaufen. Die schickten uns in ein Geschäft, wo ich für 1.200 Mark ein sehr schönes Instrument gekauft habe. Davon bekam ich beim Zoll nachher noch 40 Prozent zurück. Den Rest der Zeit haben wir in den Kneipen im alten ‚Bauch von Paris‘, wo jetzt das Centre Pompidou steht, getrunken und geflippert.“

Ein anderes Mal flogen sie spontan nach Barcelona.

„Eigentlich wollten wir da beim Radio Kontakte knüpfen. Aber das hat alles nicht geklappt. Und es regnete die ganze Zeit. Schließlich landeten wir im Jazzclub an den Ramblas, und da saß der Rainer Mackenthun, ein Schlagzeuger aus Düsseldorf. ‚Mir reicht’s, ich fahr morgen zurück, bin mit‘m VW-Bus hier.‘ – ‚Kannste uns mitnehmen?‘ ‚Ja, klar.‘“

In einem Regal im Wohnzimmer, kurz vor der Balkontür, stehen Wolfgang Engstfelds Bücher, CDs und Schallplatten. Viele Reiseführer, jede Menge Krimis und die alten Lieblingsalben, etwa Freddie Hubbards „Body & Soul“ oder Herbie Hancocks „Takin‘ Off“.

„Ich komm nur ab und zu in die Verlegenheit, die alten Platten zu hören. Ich höre keinen Jazz. Und schon gar nicht meine eigenen Sachen. Im Moment ausnahmsweise mal ein Konzert mit der Klaus Weiss Bigband, aber auch nur, weil mir jemand einen Mitschnitt gegeben hat.“ Er schmunzelt, befragt nach zeitgenössischen Favoriten. „Wie sagte Zoot Sims einmal? ‚Don’t tell me anything about good young tenor players.‘“

Wir belassen es dabei. Und gehen essen. Das kann man in Oberkassel auch sehr gut.


Uschi Brüning & Ernst Ludwig „Luten“ PetrowskyGunther Hampel

Text
Götz Bühler
Foto
Lutz Voigtländer

Veröffentlicht am unter 119, Feature, Heft

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