Fred Hersch

Laufen lassen

Er ist nicht nur ein musikalisches Wunder, sondern auch ein medizinisches: Nach einem Koma im Jahr 2008 musste der Pianist Fred Hersch das Klavierspielen neu erlernen, heute zählt er zu den wichtigsten Vertretern des zeitgenössischen Jazz. Im Gespräch erzählt er von musikalischen Grenzgängen, seiner AIDS-Erkrankung und dem Loslassen.

Fred Hersch (Foto: Sebastian Pranz)Fred Hersch, bei dem unter anderem Brad Mehldau und Ethan Iverson (The Bad Plus) gelernt haben, wurde schon achtmal für den Grammy nominiert und nahm bereits Platten mit Musikern wie Stan Getz, Joe Henderson und Charlie Haden auf. Als einer der ersten Jazzmusiker hat er sich in den 90er-Jahren öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt. Während sein aktuelles Album „Floating“ (Palmetto/Import) die Möglichkeiten des Trios auslotet, ist die multimediale Inszenierung „My Coma Dreams“ ein Brückenschlag zwischen Jazz, Literatur und Musical. „My Coma Dreams“ ist im November 2014 auf DVD erschienen, die Einnahmen kommen der Treatment Action Group zugute, einem globalen Think Tank, der sich dem Kampf gegen AIDS widmet.

Fred Hersch, Sie haben gerade Ihre Europatournee begonnen. Fühlt es sich anders an, ein Konzert in Europa zu spielen als in den Staaten?

Das Publikum hier ist viel näher an einem Klassikpublikum. Wenn ich die letzte Note eines Stücks ausklingen lasse, warten sie mit ihrem Applaus, bis es still ist. Außerdem gibt es in den USA die Tradition, direkt nach den Soli zu klatschen. In meinem Trio versuchen wir eigentlich nicht, verschiedene Soli aneinanderzureihen, es ist uns wichtig, ein homogenes Ganzes zu sein. Manchmal ist der Fokus auf Eric, auf John oder auf mir – aber es geht nicht darum, Applaus für ein besonders einfallsreiches Solo zu bekommen.

Ihr neuestes Album „Floating“ wurde für zwei Grammys nominiert. Es ist das erste Studioalbum mit Ihrem Trio seit „Whirl“. Was hat Sie nach über sechs Jahren Live-Auftritten zurück ins Studio gezogen?

„Whirl“ war das erste Album nach meinem Koma im Jahr 2008. Danach haben wir das Doppelalbum „Alive At The Village Vanguard“ aufgenommen, und das hat sich sehr gut angefühlt. Die Musik auf „Floating“ passt besser in die Arbeitsatmosphäre eines Studios, wo sich alles etwas besser kontrollieren lässt. Wenn man ein Live-Album macht, kann man im Nachhinein nicht mehr viel schneiden – nicht dass wir das häufig machen, aber es ist gut, die Option zu haben. Ich muss zugeben, dass ich etwas nervös war, nach dieser langen Zeit wieder im Studio zu sein. Aber wir haben vor den Aufnahmen eine ganze Woche im Village Vanguard gespielt, uns dann ein paar Tage ausgeruht und schließlich in zwei Tagen das ganze Album eingespielt. Es fühlte sich fast an wie ein Live-Gig.

Sie haben „Floating“ in zwei Tagen aufgenommen?

Ja, vieles haben wir in einem Take aufgenommen. Daher habe ich die Abfolge der Stücke auch wie bei einem Live-Gig aufgebaut.

Viele Ihrer eigenen Stücke sind Widmungen an andere Musiker und, wenn ich es richtig verstanden habe, sogar an Tiere. Richtig?

Ja, genau. Auf meinem Album „Fred Hersch Trio +2″ gibt es ein Stück mit dem Titel „Mrs. B.“, das ich für den Rottweiler meines Partners geschrieben habe. Mrs. B war ein riesiger, äußerst liebenswürdiger Hund. Aber riesige Hunde leben nicht sehr lange, und als sie starb, musste ich etwas für sie schreiben. Ich denke, im Ganzen sind es etwa 30 Stücke, die ich anderen gewidmet habe: Sam Jones, Charlie Haden, Lee Konitz, Bill Frisell, Bill Evans… An eine Person zu denken ist eine gute Art, eine Komposition zu beginnen.

Nehmen wir ein Beispiel von Ihrer aktuellen Platte: „Home Fries“ haben Sie Ihrem Bassisten John Hébert gewidmet. Was haben das Stück und John gemeinsam?

John kommt aus Louisiana in New Orleans und ist ein typischer Südstaatler: Er hat eine lässige Art und eine Vorliebe für frittiertes Essen, wie man es dort zubereitet. Sein Timing hat immer auch etwas vom Secondline-Feeling der Marching Bands, daran dachte ich, als ich die Basslinie von „Home Fries“ schrieb. Oder nehmen Sie das Stück, das ich für Bill Frisell geschrieben habe: Die Phrasierung des Themas erinnert an Bills Art zu spielen – wobei er wohl ein Stück wie dieses nie schreiben würde.

Sie haben letztes Jahr auf dem ersten amerikanischen Queer Jazz Festival gespielt, das in Philadelphia stattfand. Was hat Ihnen das persönlich bedeutet?

Das ist ein schwieriges Thema. Ich hatte eine lange Diskussion darüber, ob ich teilnehmen sollte oder nicht. Wissen Sie, wenn man ein Festival wie dieses vor 25 Jahren gemacht hätte, wäre es wahrscheinlich schwer gewesen, überhaupt genug Musiker zu finden, die sich als schwul geoutet hatten. Heute ist es nichts Besonderes, ein schwuler Musiker zu sein. Es ist noch nicht mal besonders interessant. Wissen Sie, ich mache ja keinen „schwulen Jazz“ oder „schwule Musik“. Wenn ich jetzt Sänger wäre und Liebeslieder für Männer singen würde, hätte das vielleicht eine gesellschaftliche Bedeutung, aber für Instrumentalmusik spielen Gender-Fragen keine Rolle.

Das heißt, das politische Statement eines solchen Festivals kommt 25 Jahre zu spät?

Ein guter Freund von mir, der im Übrigen auch die New Yorker Charta für Schwulenrechte verfasst hat, hat schon vor vielen Jahren gesagt, dass der Kampf für die Rechte der Schwulen nicht an den Wahlurnen geführt wird, sondern an den Dinner-Tischen. Dort finden Sie die Vorurteile, dort findet die Diskriminierung statt. Ich denke, die Jazzszene ist heute sehr tolerant. Als ich in den frühen 80ern mit Musikern wie Joe Henderson oder Art Farmer gespielt habe, habe ich meine Homosexualität einfach totgeschwiegen. Ich vermute, sie haben sich ihren Teil gedacht, aber wir haben nie darüber gesprochen. Als im Jahr 1981 dann Sam Jones starb, hat mich das sehr getroffen. Ich habe mich schlecht gefühlt, dass ich es ihm nie gesagt habe. Er hatte keine Gelegenheit, mich kennenzulernen, wie ich wirklich bin.

Sie kommen aus einer jüdischen Familie. Ihr Coming-out war in diesem Umfeld doch sicher ein großer Schritt, oder nicht?

Ich komme aus einem sehr liberalen jüdischen Umfeld. Das war nicht zu vergleichen mit dem traditionellen Judentum, wo Männer und Frauen im Gemeindesaal auf zwei verschiedenen Seiten sitzen – da gab es Frauen und sogar Schwule, die als Rabbiner tätig waren. Heute verstehe ich mich eher als Buddhist, ich meditiere jeden Tag und gehe auf Silent Retreats. Als ich damit anfing, wurde mir mit einem Mal klar, dass ich am Klavier eigentlich schon seit vielen Jahren meditierte – im Jazz geht es ja vor allem darum, präsent zu sein, bewusst zu atmen, nicht voraus zu denken und nicht zu bereuen, was man gerade gespielt hat. Und genau das ist ist auch die Grundessenz des Buddhismus.

Sie sind ja nicht nur ein musikalisches Wunder, sondern auch ein medizinisches. Seit vielen Jahren kämpfen Sie mit Ihrer AIDS-Erkrankung, im Jahr 2008 mussten Sie nach acht Wochen Koma das Klavierspielen neu erlernen. Glauben Sie, es gibt eine Verbindung zwischen diesen beiden Wundern?

Nun ja, es gibt zumindest eine biographische Verbindung, denn die Zeit, in der ich mein erstes Album als Bandleader aufnahm, war auch die Zeit, in der ich von meiner Krankheit erfuhr. Meine ganze Karriere als Bandleader ist vom AIDS bestimmt gewesen. Sie müssen sich bewusst machen, dass es 1986 noch keine Medikamente gegen das Virus gab – wobei, es gab welche, aber sie funktionierten bei mir nicht. Stattdessen hatten sie verheerende Nebenwirkungen. Ich habe eigentlich erst im Jahr 2008, also kurz vor meinem Koma, die richtige Kombination von Medikamenten für meine Krankheit gefunden. Es sind 34 Tabletten, die ich jeden Tag nehmen muss.

Inwiefern hat die plötzliche Gegenwart des Todes Ihre Sicht des Lebens verändert?

Wenn man wirklich ernsthaft krank wird, lässt man irgendwann los. Etwas bricht in einem auf. Es ist nicht so, dass ich nun jeden Morgen aufwache und mich freue, dass ich lebe, aber ich bin mir selbst gegenüber sehr viel entspannter geworden. Ich denke nicht mehr darüber nach, wer ich sein will und was ich machen sollte. Ich meine: Eigentlich dürfte ich gar nicht mehr am Leben sein, ich dürfte keine Musik machen und erst recht nicht an der Weltspitze stehen. Als ich aus dem Koma erwachte, war ich zu nichts in der Lage, es gab keine Erwartungen mehr. Heute lasse ich die Dinge einfach laufen, und meinem Publikum gefällt das. Das ist eine großartige Lektion.

Sie haben gerade eine DVD Ihrer Multimedia-Produktion „My Coma Dreams“ produziert. Warum haben Sie sich entschieden, etwas so Persönliches zu veröffentlichen?

Auf eine verrückte Art und Weise waren die Träume das Souvenir, das ich aus dieser schrecklichen Erfahrung mitbrachte. Es gibt medizinische Literatur, die sehr dezidiert behauptet, dass man während eines Komas nichts träumt – da ist nur ein schwarzes Nichts. Ich weiß also nicht, wann ich diese Träume träumte, aber sie waren bei mir, als ich erwachte. Wissen Sie, ich erinnere mich eigentlich nie an meine Träume, aber dieses Mal konnte ich sie über Wochen nicht vergessen – bis ich sie aufschrieb. Als Künstler arbeitet man mit dem, was sich einem bietet, daher lag es nahe, etwas aus diesem Material zu machen. Nach dem Konzert kam mein Bruder zu mir, der während des Komas viel an meiner Seite war, und sagte: „You took shit and turned it into art.“

Können Sie mir einen dieser Träume erzählen?

Gerne. In einem Traum finde ich mich plötzlich in einem Käfig wieder. Der Käfig ist genau so groß, dass ich mich weder aufrichten noch hinlegen kann. Während mir langsam meine Lage klar wird, entdecke ich, dass ich nicht alleine bin. Neben mir steht ein weiterer Käfig, in ihm sitzt Thelonious Monk. Sein Käfig ist größer als meiner, aber für Monk ist er ein wenig zu klein. Mit einem Mal geht ein grelles Licht an, und ein Mann betritt den Raum. Er händigt uns je ein leeres Notenpapier und einen Stift aus. „Der Erste von euch, der mir eine fertige Komposition gibt, darf raus!“ Ich fange hektisch an zu komponieren, ich schreibe und schreibe. Als ich fertig bin, fällt mein Blick auf Monk, auf dessen Blatt noch so gut wie gar nichts steht. Aber er sitzt einfach nur da und lächelt sein wunderbares Lächeln. Ein Lächeln wie ein Rätsel. Das ist der Traum. Er hat mich zu dem Stück „Dream Of Monk“ inspiriert. Als ich es schrieb, habe ich mir einen Wecker gestellt, um mich in die Situation im Käfig zurückzuversetzen. Ich habe das Stück in 20 Minuten geschrieben.

Stimmt es, dass Sie sich selbst zu jedem runden Geburtstag eine besondere Aufnahme schenken?

Ja, das stimmt. An meinem 50. Geburtstag habe ich ein Solokonzert in der Carnegie Hall gespielt, gefolgt von einer riesigen Party, deren Erlös der AIDS-Hilfe zugute kam. An meinem 60. Geburtstag werde ich die Premiere des Stückes „Rooms Of Light“ aufführen – eine Zusammenarbeit mit der Dichterin Mary Jo Salter. Wir haben fünf Sänger auf der Bühne und außerdem eine Band mit acht Instrumenten. Der Zyklus umfasst 16 Lieder, die sich jeweils einer anderen Form der Fotografie widmen: Daguerreotypie, Bilder aus dem Bürgerkrieg, Papparazzi-Bilder, Pornographie, Photoshop und so weiter. Am 20. Oktober spiele ich im Village Vanguard mit meinem Trio, und am 21. ist dann mein eigentlicher Geburtstag. Danach fahren mein Partner Scott und ich auf die Galapagosinseln. Keine E-Mails, wir werden einfach nur über die Insel spazieren und uns die Tiere ansehen.

Das heißt, wir dürfen auf weitere Widmungen hoffen?

Nun ja, die haben wirklich einige sehr eigenartige Tiere dort unten… Lassen Sie sich überraschen!

Mehr Informationen unter fredhersch.com

Text
Sebastian Pranz
Foto
Sebastian Pranz

Veröffentlicht am unter 109, Feature, Heft

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