Reiner Witzel

So weit, so nah

Über welche stilistische Vielfalt und schöpferische Farbigkeit der Düsseldorfer Saxofonist verfügt, zeigt Reiner Witzel auf den parallel erscheinenden Alben „Aneya“, mit der kamerunischen Sängerin Kareyce Fotso, und „Live“ (beide Jazzsick/Membran), einer Konzertaufnahme mit Richie Beirach.

Reiner Witzel

Wie viele seiner Kollegen ist auch Reiner Witzel oft in der Welt unterwegs, fliegt nach Sansibar, Kuala Lumpur, China, Kalifornien oder Uruguay, um mit eigenen Bands oder dortigen Musikern aufzutreten. Eine Destination, die der Saxofonist in den letzten Jahren häufiger besuchte, ist das zentralafrikanische Kamerun – im vergangenen Frühjahr war es wieder mal soweit. Nachdem Reiner Witzel Ende März 2019 mit seinen zwei Bandkollegen von Drei im roten Kreis und dem US-amerikanischen Pianisten Richie Beirach einen Auftritt in der Jazzschmiede Düsseldorf über die Bühne gebracht hatte, packte er den Koffer und reiste erneut nach Kamerun.

Gefördert vom GoetheInstitut, traf Witzel in der Hauptstadt Jaunde mit einheimischen Musikern zusammen, um ein gemeinsames Album einzuspielen. „Vor sechs Jahren war ich auf Einladung des YAJAZZ Festivals erstmals in Kamerun. Schon damals wollte ich unbedingt ein Konzert mit dortigen Musikern spielen. Also trommelten die Veranstalter zehn Kollegen zusammen. Mit denen funktionierte der Auftritt dann so gut und machte allen derart Spaß, dass sich daraus ein dauerhafter Kontakt ergab“, erinnert sich Witzel an seine erste deutsch-afrikanische Kooperation.

In der Folge nahmen sie 2015 ein Album auf, spielten weitere Konzerte, woraus sich auch ein Treffen mit der Sängerin Kareyce Fotso ergab. „Die Chemie zwischen uns stimmte gleich, also beschlossen wir, mehr zu machen.“ Ein Resultat ist „Aneya“, ihr als Team komponiertes und produziertes Album. Hier gelingt es Fotso und Witzel, einen enorm lebensfrohen, positiv fließenden Afro Jazz zu kreieren. Er basiert auf traditionellen afrikanischen Grooves, wandelt und erweitert diese aber mit Funk, etwas Reggae und Rock in einen kulturübergreifend hörbaren lyrischen Popsound.

„Die Rhythmik Afrikas ist nicht nur schön, sondern auch wahnsinnig komplex. Die Art der Polyrhythmik, die es in Kamerun gibt, ist unglaublich spannend. Es gibt verschiedene Timing-Ebenen, die sich gegeneinander verschieben. Das groovt dann wie irre und ist absolut tanzbar.“

Wie heimisch Reiner Witzel in Afrikas Musik geworden ist, hört man gleich bei dem von ihm geschriebenen Opener „Pegne“. Hier pulsieren die Congas zu Witzels kraftvoll geblasenem Sax und Fotsos ausdrucksstarker, sehr eigenen heiseren Stimme. Das alles klingt erstaunlich authentisch. Mit so mancher Note wird aber auch deutlich, woher der Saxofonist eigentlich kommt und dass er über eine eigene, westeuropäisch geprägte Handschrift verfügt. „Die lässt sich vielleicht über die Melodik oder Harmonik erkennen, denn hierzulande ist das Harmonische ja wichtiger als das Rhythmische. Doch in Afrika ist das anders, dort wird mehr Wert auf die Rhythmik gelegt.“ Diese zwei Ansätze in einer bestechend einnehmenden Musik zu vereinen, gelang Witzel und Fotso in ihren mitreißenden, beinahe magischen zehn Songs. Sie verfügen über eine gewisse Form von Ungezügeltheit, die typisch erscheint für die kommunikative afrikanische Kultur.

„Genau diese Art von Freiheit ist, was ich schon immer gesucht habe – auch in meinen anderen Jazzprojekten.“

Eine seiner eher im Jazz verwurzelten Arbeiten ist Reiner Witzels aktuelle Aufnahme „Live“ mit Bassist Joscha Oetz, Schlagzeuger Christian Scheuber, also seinem Trio Drei im roten Kreis, und Richie Beirach. Letzterer zählt zu den einflussreichsten Vertretern seines Instruments, hat mit David Liebman, John Scofield, Chet Baker oder Stan Getz gespielt, bis 2014 als Professor für Jazzklavier in Leipzig an der Hochschule für Musik gelehrt und ist schon länger mit Witzels Trio befreundet. „Regelmäßig spielen wir seit circa vier Jahren zusammen, was vor allem durch Richies enge Verbundenheit mit Christian zustande gekommen ist. Als etwas wildes und schräges Trio Drei im roten Kreis sind Christian, Joscha und ich ja schon lange aktiv – Richies energiegeladenes und ausdrucksstarkes Spiel war da die perfekte Erweiterung.“

Obwohl seine „afrikanische“ Platte und die Aufnahme mit Beirach kaum unterschiedlicher sein können, haben sie doch eine große Gemeinsamkeit: den anregenden Moment. „Das kommt wohl daher, dass wir als Trio wie eine Rockband denken, also mit hohem Energieniveau, viel Freiheit und Risiko spielen.“ Genau in diesen Kontext passt Richie Beirach mit seinem unfassbar vehementen Spiel. Er ergänzt nicht nur die Rauheit der drei, sondern erweitert sie, weil er im Bandzusammenhang denkt und spielt, niemals die Gewichtung auf seine Seite verlagert. „Nie hat man das Gefühl, dass er dominiert, es ist immer eine Herausforderung und dann sehr kommunikativ. Das ist es auch, was ich von ihm gelernt habe: dass man im Bandkontext agiert, was im Jazz sowieso immer der Fall sein sollte.

Text
Olaf Maikopf

Veröffentlicht am unter 132, Feature, Heft

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