Ryley Walker

Nighthawk

Bislang gelangen dem Chicagoer Gitarristen und Songwriter Ryley Walker einige schöne Kombinationen aus britischem Folk à la Bert Jansch und amerikanischem Sixties-Jazz. Sein Album „Primrose Green“ stand im Zeichen der Blue-Note-Ästhetik, der Nachfolger „Golden Sings That Have Been Sung“ orientierte sich stärker in Richtung Impulse. Auf seinem neuen Opus „Deafman Glance“ (Dead Oceans/Cargo) beschreitet er neue Wege, ohne die alten zu verlassen.

Riley Walker (Foto: Evan Jenkins)

Schon bei den ersten Takten des Openers „In Castle Dome“ fällt auf, dass Ryley Walker einer neuen Dramaturgie folgt. Die Stimmung ist introvertiert bis gedrückt. Die neun Tracks beschreiben lineare Pfade durch Klanglandschaften, auf denen sich seine Texte wie demütig vorgetragene Gedankenketten ausbreiten. Schreitet man dann von Song zu Song durch das Album, erweist sich die CD zunächst als ungleich schwerer zugänglich als ihre beiden Vorgänger. In ihrer Gesamtheit erinnert sie an das Schloss von Dornröschen, dessen Barrieren man erst bezwingen muss, um sich das Innere zu erschließen, dessen Schätze reichen Lohn versprechen. Obwohl Walker keinen konkreten Jazzvorbildern folgt, ist die Gesamtanmutung von „Deafman Glance“ doch viel jazziger als zuvor.

„Auf den beiden letzten Platten ging ich viel planvoller vor“, vergleicht Walker. „Da hatte ich die Songs schon seit Monaten live ausprobiert und wusste genau, was im Studio passieren soll. Diesmal hatte ich überhaupt nichts in der Hand. Ich wusste nur: Ich will eine neue Platte machen. Deshalb hat es so lange gedauert, bis ich in die Gänge kam. Meine einzige Vorgabe bestand darin, mich ein Stück weit von dem Folksound der früheren CDs zu entfernen. Ich wollte mehr meine eigene Persönlichkeit repräsentieren.“

Walker ist seit jeher bekannt für seine enge Verbindung zur Chicagoer Improv-Szene um Ken Vandermark, Fred Lonberg-Holm, Josh Abrams, Michael Zerang oder Frank Rosaly. Nach „Golden Sings“ hatte er sich diesem Biotop noch viel intensiver verschrieben und wollte diese Stimmung auf der neuen CD einfangen. „Deafman Glance“ ist sicher keine Improv-CD, aber so unvermittelt, wie da Elemente von klassischem Songwriting, Seventies-Jazz-Sounds, hartem Gitarrenrock, Ambient-Drones sowie freien Kollektivimprovisationen aufeinanderprallen, erinnert das zumindest stark an die musikalische Offenheit von Chicago um die Jahrtausendwende.

„Ich orientierte mich stark an Bands von damals wie The Red Crayola, Gastr del Sol, Isotope 217 oder den frühen Tortoise“, bestätigt Walker. „Jim O‘Rourke konnte diese wunderbaren Popmelodien schreiben, und im nächsten Moment spielte er einen frei improvisierten Gig. Das stand sich nicht gegenseitig im Weg. Ich finde das sehr inspirierend und wollte auf die gleiche Weise eine Verbindung zwischen den Auffassungen von John Fahey und Derek Bailey finden. Etwas, das zur gleichen Zeit Glück und Depression repräsentiert.“

2017 war Ryley Walker vergleichsweise wenig auf Tour. Er verbrachte den größten Teil seiner Zeit allein in Chicago und setzte sich mehr als zuvor mit den eigenen Abgründen auseinander. Auf der schwarzen Southside der immer noch stark segregierten Windy City einer der wenigen Weißen – im Bus erzählte ihm kürzlich ein Mitfahrer, er hätte in dieser Gegend seit den 80er-Jahren keinen Weißen mehr gesehen –, ist er oft auf sich allein gestellt. Extreme Gefühlswechsel drohen ihn innerlich zu zerreißen. Diesen Dualismus wollte er auf der CD zum Ausdruck bringen. „Deafman Glance“ ist aber nicht nur eine Darstellung von Walkers Innenwelten, sondern auch ein Porträt seiner Heimatstadt.

„Ich bin eine Nachteule. Tagsüber wimmelt es in Chicago von Menschen. Aber nachts sind die Straßen leer. Ich liebe es, in den nächtlichen Stunden durch die Stadt zu laufen und meine Sensoren auf Empfang zu stellen. Du kannst es hören, wenn zwei Meilen weiter eine Flasche zerschlagen wird.“

Dieses Alltagsrauschen versucht er in seine Musik zu übertragen. Das Bellen von Hunden, das Weinen von Kindern, das Wummern der Räder auf dem Asphalt, das leise Summen der elektrischen Leitungen. Die düstere Grundstimmung des Albums mit seinen überraschenden Lichtblicken erinnert in gewisser Weise an die statische Lethargie auf Edward Hoppers berühmtem Gemälde „Nighthawks“. In welche Richtung es mit Ryley Walker musikalisch weitergeht, ist noch völlig offen. „Deafman Glance“ ist gleichermaßen Abschluss einer künstlerischen Phase und Ausblick. Er hat bereits mehrere Alben mit freier Improvisation aufgenommen, die er aber noch nicht veröffentlichen will. Doch der Zeitpunkt dafür rückt näher.

Text
Wolf Kampmann
Foto
Evan Jenkins

Veröffentlicht am unter 124, Feature

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