Steve Lehman

Gegensätze ziehen sich an

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Steve Lehman zu den Triebkräften der kreativen Jazzszene von New York gehörte. Dann verschlug das Leben den umtriebigen Saxofonisten nach Los Angeles, wo er neue Herausforderungen suchte und fand. Anfang 2025 kündigte der ehemalige Braxton-Schüler ein Album mit Kompositionen von Anthony Braxton an. Nun sind Braxton-Schöpfungen definitiv keine Party-Banger, aber mit seinem Trio, dem Bassist Matt Brewer und Drummer Damion Reid angehören, sowie Saxofonist Mark Turner gelang ihm die wohl unterhaltsamste und kurzweiligste Annäherung an Braxton, die es je gegeben hat. Grund genug, ihn sofort um ein Gespräch zu bitten. Lehman sagte zu, doch dann kam alles anders.

Steve Lehman Trio (Foto: John Rogers)

Denn der Saxofonist gehört zu den zahllosen Einwohnern von Los Angeles, die durch die verheerenden Brände im Januar ihr Haus verloren haben. Spielt da die Musik überhaupt noch eine Rolle? Lehman brauchte ein paar Tage, um sich neu zu organisieren, und war dann trotz aller Umstände zu einem Interview bereit. Seine Haltung zur Katastrophe ist mehr als ermutigend. „Natürlich hat all das einige Kopfschmerzen ausgelöst. So etwas steckt man ja nicht einfach so weg. Aber wir haben schnell eine neue Unterkunft gefunden, die Kinder können weiterhin ihre Schule besuchen, ohne ihr soziales Umfeld einzubüßen. Ich besitze nicht viel und konnte mein Saxofon in Sicherheit bringen. Uns wurde auch viel Hilfe entgegengebracht. Gemessen an den Umständen, können wir uns glücklich schätzen. Natürlich muss sich erst mal wieder Normalität einstellen, aber solange es meinen Kindern gutgeht, bin ich dankbar und zufrieden.“

Kurz, Steve Lehman ist ein sehr positiver Mensch. Und damit zurück zu seinem Album „The Music Of Anthony Braxton“ (Pi Recordings/Import), denn dieser immanente Positivismus kommt auch in seiner Musik zum Ausdruck. Lehman und Co. widmen sich mit einer derartigen Spiel- und Lebensfreude den komplexen Vorlagen von Anthony Braxton, dass es auch aus Hörerperspektive schwerfällt, die neuen Versionen zu den Originalen zurückzuverfolgen.

„Das hat natürlich viel mit den Musikern zu tun, mit denen ich diese Platte eingespielt habe“, delegiert Lehman. „Uns ging es um ein inspirierendes Album. 2020 organisierte ich in Los Angeles ein Festival, um Anthony Braxtons 75. Geburtstag zu begehen. Wegen des Lockdowns konnte es aber erst Ende 2022 stattfinden. In dieses Konzert wollte ich vor allem Musiker einbeziehen, denen Braxtons Orbit noch fremd war. Mit Mark Turner hatte ich bereits 2014 auf einem Album von Matt Brewer gespielt. Mark hat mehr mit Braxton gemeinsam, als man auf Anhieb vermuten würde, zum Beispiel eine Obsession für Warne Marsh. Ich hatte einige Partituren von Braxton, andere Stücke transkribierte ich von Platten, und die Tri-Centric Foundation, die Braxtons Gesamtwerk aufarbeitet, half mir ungemein bei der Erarbeitung des Materials. Die Herausforderung bestand aber darin, für die Musik einen Kontext zu finden, in dem Musiker, die nicht mit ihm oder seinen Notierungen vertraut waren, etwas mit ihr anfangen konnten. Als Mark und ich über ein gemeinsames Album nachzudenken begannen, dachte ich, es wäre eine gute Idee, an das Braxton-Projekt anzuschließen.“

Obwohl Lehman und Turner bereits auf besagtem Album von Matt Brewer kollaborierten, ist die Kombination dieser beiden höchst unterschiedlichen Saxofonisten alles andere als naheliegend, zumal Brewers „Mythology“ wirklich eine völlig andere Kiste war. Nicht nur der Sound beider Musiker ist sehr gegensätzlich, auch ihre Backgrounds und Umfelder scheinen kaum kompatibel. Und doch ergänzen sie sich geradezu magisch. „Mark ist ein bisschen älter als ich, und als junger Saxofonist habe ich immer zu ihm aufgesehen. Auf seinem nächsten Album für ECM ist ein Stück mit dem Titel „Lehman’s Layer‘. Darauf bin ich wirklich stolz. Es gibt sicher viele Unterschiede zwischen uns, aber je mehr wir zusammenspielen, desto mehr Gemeinsamkeiten entdecken wir.“

Die Stimmung auf „The Music Of Anthony Braxton“ erinnert ein Stück weit an Dave Hollands legendäre Einspielung „Conference Of The Birds“ von 1972 mit Anthony Braxton, Sam Rivers und Barry Altschul. „Das ist richtig“, pflichtet Lehman bei. „Die Instrumentierung ist dieselbe, nur dass Mark und ich anders als Sam und Anthony keine Multiinstrumentalisten sind. Daves Album ist vielleicht ein wenig meditativer, denn er hat ja die Sachen geschrieben. Unsere Musik ist vielleicht ein wenig kantiger und energetischer. Sie klingt mehr nach New York. Aber trotzdem haben beide Platten viel gemeinsam.“

Text
Wolf Kampmann
Foto
John Rogers

Veröffentlicht am unter 158, Feature, Heft

Anna Depenbusch & Kaiser Quartett on tour!