Tobias Meinhart

Rastlos träumen

Ambitionierte Jazzer, so heißt es manchmal, sind ewig Suchende. Dies evoziert natürlich, dass sie ihr Ziel womöglich nie erreichen. Auf Tobias Meinhart passen diese Metaphern – wenn man den „Jazz thing Next Generation“-Spross allenfalls oberflächlich betrachtet. Der talentierte Tenorsaxofonist befindet sich fast ständig auf Achse, verfolgt damit aber einen klar definierten Plan: sich langfristig als ernstzunehmender Musiker zu etablieren. Wenn es einem gelingen könnte, dann ihm.

Tobias Meinhardt StudioDie Binsenweisheit „Wer rastet, der rostet“ darf im Falle von Tobias Meinhart getrost auf die Formel „Wer sich gerade in diesem Alter ausruht, der hat schon verloren“ zugespitzt werden. 29 Lenze zählt der Tenorsaxofonist und 39. „Jazz thing Next Generation“-Stern, aber gerade deshalb lässt er sich derzeit nirgendwo konkret festnageln. Weder in Wörth an der Donau, wo er aufwuchs und seine Mutter eine Apotheke betreibt, noch im benachbarten Regensburg, dem Ort, an dem er sein Abitur ablegte, oder gar in München.

Gerade eben sitzt Tobias im Zug aus Köln, wo er mit der JTNG-Allstar-Band The Big Jazz Thing die Jubiläums-CD der vielbeachteten Nachwuchsreihe einspielte („eine interessante und wichtige Erfahrung, mal mit anderen Leuten zu spielen – und eine absolute Ehre“). Der rastlose Hoffnungsträger will weiter nach Basel. Dort studiert er bis dato (unter anderem bei Domenic Landolf, Adrian Mears, Johannes Enders) und muss am selben Abend noch einen Gig spielen. Eigentlich sollte es beim Telefonat um jenen denkwürdigen Auftritt im baskischen Getxo (sprich: Getscho) bei Bilbao gehen, wo seine Combo den Jazzpreis abräumte, Meinhart selbst mit dem Solistenpreis dekoriert wurde und außerdem die exzellente Live-CD Tobias Meinhart Quartet (Errabal Jazz) entstand. Doch diverse Funklöcher und Tunnels bremsen den Redefluss des Reisenden immer wieder.

Es ist eine entscheidende Phase in der noch jungen Karriere eines Musikers, den viele als eines der größten deutschen Talente am Tenorsaxofon bezeichnen. Jetzt am Ball zu bleiben, keine gravierenden strategischen Fehler zu machen, Präsenz zu zeigen sowohl auf der Bühne als auch in den Medien: Das könnte sich in jeder Hinsicht positiv für die Zukunft des talentierten Bayern auswirken. Deshalb sind ihm die dauernden Unterbrechungen unangenehm. „Tut mir wirklich leid, aber ich bin zurzeit wirklich ständig unterwegs. Du kannst mich quasi kaum irgendwo still sitzend erreichen.“

Tobias Meinhardt LiveNew York gehörte ebenfalls zu den Etappenzielen des ehrgeizigen Youngsters, schließlich holte sich Tobias dort bis 2012 bei Antonio Hart und Seamus Blake den letzten Schliff sowie sein Master Degree in Jazz Performance, außerdem noch Amsterdam (ebenfalls zu Studienzwecken), ganz zu schweigen von ausgedehnten Tourneeaktivitäten durch ganz Europa. „Ich freue mich, dass es so gut läuft und ich meinen Traum ganz allmählich verwirklichen kann.“ Den Preis, ständig auf Achse zu sein, quasi jede Nacht in einem anderen Bett zu schlafen, nimmt er in Kauf. Denn wer in der kleinbürgerlichen Oberpfalz groß geworden ist, für den muss es wie eine Befreiung anmuten, endlich von dort weg zu können. Tobias Meinharts Heimat ist seit geraumer Zeit sowieso die Musik. Und gerade diese kommt trotz seines Mörderpensums erstaunlich stressbefreit, cool, abgeklärt und voller Leidenschaft daher – eine Anleihe an sein großes Vorbild Wayne Shorter, dem er leibhaftig in Getxo begegnete:

„Wir durften als Vorband für ihn und sein Quartett auftreten“, schwelgt Meinhart, während der Zug monoton über die Schienen rattert. „Wayne war persönlich da, ebenso Brian Blade und Danilo Perez. Außerdem saß da noch die Jury. Da bekommt man schon mal weiche Knie. Aber es ist gutgegangen. Wayne gab uns noch einen Ratschlag: ‚Keep doing your thing‘. Wenn so ein Großer das zu mir sagt, dann empfinde ich das als Verpflichtung.“

In der Tat lässt sich in den sechs Stücken der Platte die besondere Atmosphäre des Abends in Getxo erahnen. In einer Aura des Über-sich-Hinauswachsens agieren Meinhart, sein gleichfalls aus der Oberpfalz stammender langjähriger Spezi Lorenz Kellhuber (Piano), Bassist Tom Berkmann, Schlagzeuger Valentin Schuster und der französische Posaunist Lou Lecaudey als neue Klangfarbe berstend kraftvoll und voller Nuancen, so als habe jeder die einmalige Chance beim Schopfe packen wollen.

„Wir bewegen uns weg von unserem früheren Hardbop-Konzept, was vor allem auf ‚In Between‘ deutlich wird“, analysiert der Bandleader. „Unser Ansatz soll offener, freier werden, ähnlich wie bei Wayne Shorter oder vielleicht auch Maria Schneider – nicht dieser 60er-Jahre-Brötzmann-Free-Jazz, sondern Melodien und Harmonien gelegentlich in einen losen Zusammenhang stellen. So etwas funktioniert allerdings nur, wenn sich die Bandmitglieder blind vertrauen. Das beinhaltet immer ein gewisses Risiko, bietet dir aber auch die Chance für solch magische Momente.“

Just in dieser Sekunde kündigt die Lautsprecherdurchsage die Einfahrt des ICE in den Baseler Hauptbahnhof an, ehe die Verbindung abermals zusammenbricht. Auf dem Bahnsteig der schweizerischen 170.000-Einwohner-Stadt steht Tobias Meinhart mit seinem Saxofonkoffer und findet den verlorenen Faden schnell wieder:

„Der Trend beim Tenor hat sich deutlich verändert. Während früher alle nur Coltrane nacheiferten, orientieren sich gerade junge Saxofonisten heute mehr in Richtung Lester Young. Der Sound ist matter, fast kammermusikalischer geworden, man verwendet weniger Metallmundstücke und dafür mehr hölzerne Blätter, um so zu klingen wie Mark Turner. So etwas entspricht auch meiner Ästhetik.“

Eine neue CD mit dem Kölner Vokalisten Tobias Christl als zweiter Instrumentalstimme ist schon im Kasten, und in Basel wird Tobias bald wieder seine Zelte abbrechen, auch weil sich der vielleicht einzige Grund für eine zumindest vorübergehend Sesshaftigkeit, nämlich eine Beziehung, erledigt hat.

„Ich habe vor kurzem ein Artist Visum für New York bekommen und mir schon eine Wohnung in Brooklyn besorgt. Das Visum gilt für drei Jahre, aber ich glaube nicht, dass ich es so lange aushalte. Vielleicht pendle ich ja auch hin und her.“

Bis er irgendwann seine endgültige Bestimmung gefunden hat.

Text
Reinhard Köchl

Veröffentlicht am unter 99, Feature, Heft

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