Die Vibes von Villingen. Renaissance bei MPS
Einst waren sie das Mekka für Oscar Peterson, George Duke und die Singers Unlimited: Die MPS- Studios schrieben dank hochwertiger Aufnahmetechnik Jazzgeschichte mitten im Schwarzwald. Mit neuer Besetzung werden in den legendären Räumlichkeiten nach dem Tod von Gründervater Hans Georg Brunner-Schwer nun weitere Kapitel aufgeschlagen – nach wie vor im „most perfect sound“. Stefan Franzen hat in Villingen hinter die Kulissen geblickt.
Schon der Schienenweg von Freiburg hinauf wurde immer wieder von heftigem Schneegestöber umwirbelt. Doch hier liegt wohl der Kältepol des Südwestens. „Badisch Sibirien“. Ein eisiger Wind fegt durch den Bahnhof des Städtchens, legt zu den gemessenen minus 10 Grad nochmals ein paar Chill-Einheiten drauf. Die mittelalterlichen Gassen mit ihren trutzigen Toren geben mit dem Schnee trotz allem ein pittoreskes Bild ab. Man kann sich vorstellen, dass Villingen im Sommer zu einer ungetrübten Schwarzwaldidylle aufblüht. Doch zitternd heißt es jetzt, so schnell wie möglich zur Richthofenstraße zu gelangen. Im Übergang zu den Außenbezirken schließlich erkenne ich das unscheinbare Gebäude. Eine Nudelfabrik war hier früher untergebracht. Richtig, auch ein George Duke schätzte ja die Spätzle während seiner Aufenthalte im Black Forest. „HGBS Musikproduktion UG“ – ein orthographisch etwas ausgedünntes Schild prangt am Eingang. Vier Großbuchstaben, die immer noch für den Unternehmer Hans Georg Brunner-Schwer stehen, der sich Ende der Sechziger nach dem Verkauf der Hifi-Dynastie SABA im Obergeschoss seine weltbekannten Studios eingerichtet hat.
„Die Tür ist offen!“ In der Gegensprechanlage dröhnt ein sattes Bassorgan, es gehört Friedhelm Schulz, neuer Geschäftsführer bei HGBS. Oben am Treppenansatz schüttelt der Mann mit der markanten Stimme die eiskalte Hand. An der Empfangstheke schenkt Matthias Brunner-Schwer, Sohn des Studiogründers wärmenden Kaffee aus. Heute herrscht hier geschäftiger Hochbetrieb, die Oriental Jazz-Combo Fis Füz um den Freiburger Perkussionisten Murat Coskun hat sich zu Sessions eingemietet. Und – ein Blick aus dem Fenster in den Hof verrät es – eine massige, bärtige Gestalt mit enormer Brille stapft auch schon übers Eis heran, dicke Atemwolken auspustend: der mediterrane Gast Gianluigi Trovesi.
Bauchige Lampen, Schalensitze in Retro-Braun
Es sieht hier tatsächlich noch so aus wie anno 1970. Bauchige Lampen in Gummibärchenrot hängen von der Decke im Foyer, die Schalensitze sind im geschmackvollen Retro-Braun gehalten. Jadefarbene Wandverkleidung gibt den Hintergrund ab für den berühmten Bösendorfer Grand Imperial, der seinerzeit für Friedrich Gulda angeschafft wurde. Seit Jahrzehnten wurde er um keinen Zentimeter bewegt, denn seinen perfekten Standort hat Brunner-Schwer seinerzeit minutiös ausgelotet, die Markierungen für die Mikrofonplatzierungen sind mit Rotstift eingezeichnet. Plattencover von Oscar Peterson, Dave Pike und Baden Powell zieren Türen und Wände im Flur, wie eine kleine Ausstellung des MPS-Artwork-Arsenals. Im Regieraum, vollgestopft mit feinster analoger Tontechnik von einst, sitzt Tonmeister Adrian von Ripka. Schließlich sammeln sich die Musiker, nachdem eine launige Fotosession für die kommende CD im Flur beendet ist, hinter der anderen Seite der Scheibe. Man probt „Campanello Cammelato“, ein überschwängliches Tanzstück. Trovesi hat es eigens in den Schwarzwald mitgebracht. Coskuns Darbuka, Gürkan Balkans Oud und das Wechselspiel der Klarinetten von Annette Maye und ihrem italienischen Gegenpart tönen aus den Monitorboxen. Es klingt warm, sehr nah, sehr präsent. Fis Füz und Trovesi schwärmen von diesen Klang, und sie sind nicht die einzigen, die derzeit genau deswegen nach Villingen pilgern.
Der Sound als Kapital
Rekapitulation der letzten Jahre: 2004 starb MPS-Gründer Hans Georg Brunner-Schwer im Alter von 77 Jahren bei einem Verkehrsunfall. In den Jahren zuvor war es schon ruhiger um MPS geworden: Seit er die Rechte vieler Aufnahmen 1983 an Polygram verkauft hatte, betrieb der Nestor die Studios ausschließlich als Hobby, nahm nur noch Klassik-Produktionen auf, die ihm persönlich gefielen, dies schon unter seinem Initialkürzel HGBS Musikproduktion. Nach seinem Tod gab es eine komplette Auszeit, seit 2010 ist der Betrieb erneut angefahren worden. „Wir sind ja erst knapp zwei Jahre lang wieder am Start, und es ist wichtig, sich auf dem heutigen unübersichtlichen Markt mit einem Markenzeichen zu positionieren. Unser Kapital ist nach wie vor der unverwechselbare Sound“, bekräftigt Friedhelm Schulz in einer Aufnahmepause. Er wurde vom Sohn Matthias ins Boot geholt, um das Erbe kreativ und nachhaltig weiterzuführen. Den gelernten Journalist und Kaufmann hatten die Produktionen au dem Schwarzwald schon als junger Mann fasziniert. „Bei meinen ersten Jazzplatten war auch schon MPS dabei“, erinnert er sich. „Ich wusste, wo diese Firma sitzt, da muss auch kulturell was los sein!“
Bereits 1978 hatte er denn auch die Gelegenheit beim Schopf gepackt, mit einem konkreten beruflichen Angebot aus dem Norden ins quirlige Schwarzwaldstädtchen zu kommen. Seitdem unterhält er enge freundschaftliche Bande zur Familie. „Wir ergänzen uns optimal, obwohl wir zwei völlig unterschiedliche Charaktere sind“, nimmt Matthias Brunner-Schwer den Faden auf. Schulz als aktiver Programmgestalter des Jazzclubs Villingen und Vorsitzender des Jazzverbands Baden-Württemberg sei am Puls der Zeit, während er selbst die Kontakte zu den alten Künstlern wahre und genau wisse, wie der MPS-Sound zu klingen hat. Schließlich hat er dem Vater schon als Bub über die Schulter geguckt, wenn der am Mischpult saß. Bei den nächtlichen Hauskonzerten in der Familienvilla, einen Steinwurf von den Studios entfernt, war er selbstredend auch dabei. „Wie eine Droge war das damals, als Oscar Peterson 1963 das erste Mal nach Villingen kam“, erinnert er sich. Bis vier Uhr morgens lauschte er dem Pianogigant, um sieben ging es wieder in die Schule. „Die Beatles wollte ich von da an nicht mehr hören.“