RIP: Giorgio Gaslini
Das einzige Mal, dass ich dem Pianisten und Komponisten Giorgio Gaslini begegnet bin, war im Januar 2012. Ich war auf Recherchereise in Italien und wollte auch die „graue Eminenz“ des Jazz aus Italien sprechen. Über diesen Pianisten sagte mir der Jazzforscher und Leiter des Zentrums Jazz „Arigo Polillo“ der Fondazione Siena Jazz, Francesco Martinelli, dass er für viele Musiker in Italien so etwas wie der „Apostel des Modern Jazz“ sei: „Schon früh trat er in den Clubs im Land auf – immer begleitet von erstklassigen Musikern.“ Ich traf Gaslini also vor zweieinhalb Jahren in Mailand, der Stadt, in der er am 22. Oktober 1929 geboren wurde. In seiner Wohnung erzählte er zahlreiche Anekdoten aus seinem – tatsächlich – bewegten Musikerleben: von seinen Kooperationen zum Beispiel mit Max Roach oder Archie Shepp, mit Ornette Coleman oder Gunther Schuller; darüber, dass er als junger Klavierstudent am Mailänder Konservatorium mit Claudio Abbado und Luciano Berio studiert hatte, und darüber, dass er 1985 als erster europäischer Jazzmusiker in die Volksrepublik China eingeladen wurde, um sein Orchesterstück „Skies Of China“ aufzuführen. Stilistisch ließ sich Gaslini nie festlegen, wie er im Gespräch betonte: „Ich habe Swing gespielt, aber auch Bebop und Free Jazz. All das gehört für mich in eine Traditionslinie und zu meiner kulturellen Erfahrung. “
Gaslinis Diskografie als Leader umfasst mehr als 100 Alben, die er im Laufe der vergangenen fast 60 Jahre veröffentlicht hat (zuletzt das Piano-Solo-Album „Incanti“ 2011) – und auf denen oft junge italienische Jazzmusiker ihre ersten Karriereschritte machten. Er war aber nie nur Musiker, sondern gab der Jazzszene Italiens stets auch Impulse aus anderen Richtungen: So war Gaslini zum Beispiel Mitte der 1970er-Jahre verantwortlich dafür, dass Jazz und improvisierte Musik an den renommierten Musikhochschulen in Rom und Mailand studiert werden konnten. Zudem rief er 1991 das Grande Orchestra Nazionale Di Jazz, das italienische Pendant zum deutschen BuJazzo, ins Leben, das er zehn Jahre lang leitete. Umso mehr mag es verwundern, dass man hier in Deutschland kaum Notiz von diesem Klaviervirtuosen genommen hatte – obwohl Gaslini auch in der ersten Besetzung des Italien Instabile Orchestra Anfang der 1990er dabei war, mit dem er unter anderem sein Stück „Skies Of Europe“ für das Münchner Label ECM einspielte.
Im Interview zeigte sich Gaslini als reflektierter Gesprächspartner, der mit scharfen Blick die prekäre Situation des Jazz in Italien analysierte: „Eines der größten Probleme der jungen Generation ist, dass sie heutzutage vom Hauptstrom der Jazzentwicklung abgeschnitten ist und keine richtigen Wurzeln mehr in der Geschichte des Jazz hat. Während meine Generation noch all die großen amerikanischen und europäischen Musiker kennengelernt hatte, so haben die Jungen den Kontakt fast völlig verloren.“ Für den überzeugten Linken war die populistische Politik von Silvio Berlusconi (der musste im November 2011 als Ministerpräsident zurücktreten) verantwortlich für die gesellschaftliche, politische und kulturelle Stagnation in seiner Heimat: „Die Schwierigkeiten fingen an, als Berlusconi sein Medienimperium gründete“, schimpfte Gaslini. „Anfangs liefen dort zwar noch gute, auch Musik-Programme. Aber später waren es vor allem die vielen kommerziellen Privatsender in der Hand Berlusconis, die das Bewusstsein der Bevölkerung für zeitgenössische Kultur und Kunst verflacht haben.“ Am 29. Juli ist Giorgio Gaslini im Alter von 84 Jahren gestorben. Text: Martin Laurentius
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Giorgio Gaslini