RIP: Lee Konitz
Was für eine unfassbare Karriere als Jazzmusiker. Gut 75 Jahre war Lee Konitz, 1927 in Chicago geboren, in der Jazzszene präsent, vor allem in seinen frühen Lebens- und Karrierejahren stand er nicht selten im Zentrum wichtiger ästhetisch-musikalischer Entwicklungen. Als weißer amerikanischer Saxofonist gehörte er beispielsweise 1949 und 1950 zum Nonett um Miles Davis und Gil Evans, das mit dem Album „Birth Of The Cool“ den Cool-Jazz mit auf den Weg brachte. Nur unwesentlich später experimentierte er im Zirkel um den blinden amerikanischen Pianisten Lennie Tristano an neuen Ausdrucks- und Gestaltungsmitteln und spielte damals schon eine Art Proto-Free-Jazz mit verschiedenen Musikern aus dieser „Tristano-Schule“ – wie etwa Warne Marsh und Billy Bauer.
Das waren auch die Jahre, in denen er sein Spiel auf dem Altsaxofon entwickelt und verfeinert hatte. Konitz war schon damals kein „heißer“ Bläser, kein Bebop-Saxofonist wie Charlie Parker, der selbstvergessen und expressiv im Geschwindigkeitsrausch über die Harmonien fegte. Ihm stand mehr der Sinn nach einer intellektuellen Durchdringung des musikalischen Materials, fast ohne Vibrato und oftmals im mittleren Tempo reihte er motivisch seine Achtelketten aneinander – intellektuell, analytisch, distanziert, einem Wissenschaftler beim Experiment nicht unähnlich, so sehr schien er das Stück Musik, das er in dem Moment in den Händen hielt, zu sezieren.
Tatsächlich ist Konitz zeitlebens stilbildend gewesen: Als Improvisationskünstler mit seinem Instrument, der unverkennbar ein eigenes Vokabular ausgebildet und zur Verfügung hatte, mit dem er sich jedem nur erdenklichen musikalischen Setting flexibel und eloquent zu stellen wusste. Seine Diskografie umfasst mehr als 150 Veröffentlichungen als Leader und Sideman, darunter auch viele bedeutende Duo-Aufnahmen, die sich wie ein roter Faden durch sein ganzes Schaffen und Werk ziehen. Zudem war er bis ins hohe Alter Mentor für viele Musiker*innen aus der Kinder- und Enkelkinder-Generation; vor allem hier in Europa – für den Wiener Trompeter Franz Koglmann ebenso wie zum Beispiel für den Kölner Pianisten Florian Weber, dessen Trio Minsarah vor zwölf Jahren eine Weile lang seine „feste“ Band war. Am 15. April ist Lee Konitz nun im New Yorker Stadtteil Greenwich Village im Alter von 92 Jahren an den Folgen einer COVID-19-Erkrankung gestorben.