Buch: Roots | Heimat

Roots | Heimat. Diversity in JazzRoots | Heimat. Diversity in JazzIm Jazz sind Begriffe wie „Roots“ oder „Heimat“ beinahe so etwas wie Topoi. Dabei kann es ganz konkret darum gehen, wo und wie man aufgewachsen ist, seine Wurzeln und seinen familiären Rückhalt hat. Es kann aber auch um eine, nennen wir sie mal: imaginäre Verwurzelung gehen; also unter anderem darum, auf welchem musikkulturellen Terroir man groß geworden ist und aus welchem ästhetisch-stilistischen Reservoir man seitdem als Musikhörende oder -schaffende schöpft. Diese sowieso schon komplexe Gemengelage wird aber erst dann so richtig diffizil und unübersichtlich, wenn die Diskussion ideologisch geführt wird und in die Frage mündet, wie offen und divers „der“ Jazz überhaupt sein kann.

Auch darum ging es beim 17. Jazzforum, das im vergangenen Jahr in Darmstadt stattfand und erneut vom Jazzinstitut organisiert und durchgeführt wurde. Die Vorträge, Diskussionen und Performances, die während der drei Tage im Herbst 2021 über die Bühne gingen, finden sich nun in dem Buch zum Symposium, „Roots | Heimat. Diversity in Jazz“. „Es geht ja jetzt nicht darum, eine Jazzwelt zu schaffen, in der es eine ausgeklügelte Balance zwischen Männern wie Frauen gibt, zwischen homo-, hetero- und sonst-wie-sexuellen Menschen, People of Colour, Menschen mit Migrationshintergrund, in Deutschland lebenden Amerikanerinnen und Amerikanern und desgleiches mehr“, schreibt der Leiter des Jazzinstituts Darmstadt, Wolfram Knauer, in seiner Einleitung zum Buch, die er unter die Frage „Wie offen ist der Jazz?“ gestellt hat. „Es geht um das Verständnis, dass das Ungewöhnliche irgendwo in unserer Gesellschaft ziemlich gewöhnlich ist.“

Das Buch ist in fünf Themenblöcke gegliedert. Geht es im ersten Block um kulturelle Identität, so beschäftigt sich der zweite mit dem Aneignungsprozess afroamerikanischer Musik in Europa. Weiter geht es mit der Frage nach den Innen- und Außensichten, bevor es um konkrete Beispiele mit Musikern und ihren Umgang mit Herkunft und Identität geht. Der letzte Block setzt sich dann mit der Perspektivänderung auseinander. Themen gibt es also genug, die zur Grundlage von kontroversen Diskussionen werden können. Philipp Teriete untersucht zum Beispiel den Ausbildungskanon an den „Historically Black Colleges and Universities“ in den USA, während der afrodeutsche Musikwissenschaftler, Jazzforscher und Saxofonist Harald Kisiedu die „Emanzipation“ des europäischen Jazz in den 1950er- und ’60er-Jahren hinterfragt, Nico Thom am Beispiel von Bill Ramsey Aspekte der Amerikanisierung Europas diskutiert oder die Saxofonistin Luise Volkmann über Ritualität als übergreifende Klammer für ihre Jazzmusik spricht.

Schon einen Vorgeschmack auf mögliche Kontroversen liefern dabei Vincent Bababoutilabo und Timo Vollbrecht mit ihren Aufsätzen. Bababoutilabo hat seinen Text unter die Überschrift „Black Music Matters. Beobachtungen eines Antirassisten in der deutschen Jazzausbildung“ gestellt. „Im Jazz“, schreibt er, „in Schwarzer Amerikanischer Musik sehe ich einen künstlerischen Gegenentwurf, denn die Geschichte des ,Black Arts Movement‘ ist untrennbar mit der Geschichte von Menschen verbunden, die sich ständig gegen rassistische Kategorisierung, Unterdrückung und Ausbeutung gewehrt haben.“ Im Fokus von Vollbrechts „Das Problem des Othering. Exotismus im Jazz, Artistic Othering und Komplexe Intersektionalität“ stehen „Social“ und „Artistic Othering“, also jemanden gesellschaftlich oder künstlerisch zum Anderen zu machen und durch negative Stereotype zu diskriminieren. Dafür dröselt er das komplexe Phänomen des „Andern“ in seine verschiedenen Aspekte und Bestandteile auf, um darzustellen, welche Auswirkungen das auf die Lebensrealität marginalisierter Menschen und Musiker/-innen auch und gerade in Deutschland hat. „Während die Mehrheitsgesellschaft auf der einen Seite Minderheiten klar markiert“, schreibt Vollbrecht, „vermeidet sie auf der anderen die Benennung einer bestimmten Kategorie, und das ist die der eigenen Kategorie weiß.“ Die 17. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, „Roots | Heimat. Diversity in Jazz“, sind im Wolke Verlag erschienen, haben 303 Seiten und kosten 29 Euro.

Weiterführende Links
„Roots | Heimat. Diversity in Jazz“

Text
Martin Laurentius

Veröffentlicht am unter News

Deutscher Jazzpreis 2025