Neues Buch: Free Music Production
Dieses Buch ist ein ziemliches Trumm: 400 Seiten dick, großformatig, fast zweieinhalb Kilo schwer. Es ähnelt eher einem Kunstband als einem Fachbuch über die West-Berliner Free Music Production (kurz: FMP). Für den Autor Markus Müller ist die FMP jedenfalls „der wichtigste kulturelle und kulturpolitische Betrag West-Berlins zum 20. Jahrhundert“. So schreibt er es in seiner Einleitung für sein Buch „FMP: The Living Music“. Darin liefert er auch eine Art Methodenkritik. „Dieses Buch ist das Produkt meiner zahllosen Begegnungen mit der Free Music Production, die sich auf einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren erstrecken. Bei meinem ersten Kontakt war ich ein Fan – und auch heute ist mein Verhältnis noch durch diesen Ursprung geprägt“, so Müller. „Ich habe keine musikwissenschaftliche Ausbildung, und deshalb liefert diese Publikation keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den mittlerweile mehr als fünfzig Jahren FMP-Geschichte.“
Es ist aber gerade Müllers subjektiver Blick, der diese 400 Seiten so lesenswert und erfahrungsreich macht. Er hält uns nicht auf Distanz, sondern zieht uns direkt in 30 Jahre Zeitgeschichte ab der Gründung der FMP 1969 hinein: in das Politische und Unpolitische dieser Menschen der sogenannten 68er-Generation – wie sie versuchten, ihre Vorstellungen und Ideen einer echten und gerechten Gesellschaft zu verwirklichen, die aber vielen in den vergangenen 50 Jahren dann doch nur eine überlebensgroße Vision blieb. Es sind die oftmals gebrochenen Biografien der so gegensätzlichen und verschiedenen Akteur/-innen und Protagonist/-innen, die die FMP bis in die 00er-Jahre so beispielhaft werden ließen – die eines Jost Gebers, der das Bild dieser gleichermaßen als Plattenfirma wie auch als Konzert- und Festivalagentur agierenden Firma über lange Zeit prägte; die eines Dieter Hahne, der dem nahezu überbordenden Ideenreichtum Gebers‘ Tiefe und Grundierung gab; die eines Peter Brötzmann, der der politischen Idee, für die die FMP beispielhaft war, mit seinem „Free Jazz“ und seinem Saxofon einen ästhetischen Rahmen gab; die einer Dagmar Gebers, die mit ihrer Kamera die vielfältigen Aktionen der FMP nicht nur dokumentierte, sondern diesen auch einen eigenen visuellen Look zu vermitteln wusste. Nicht zu vergessen die vielen Namen von Akteur/-innen der musikalischen Avantgarde, die mal mehr, mal weniger eng mit der FMP assoziiert waren: Brötzmann, Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach, Paul Lovens, Sven-Åke Johansson, Irène Schweizer, Johannes Bauer, Ulrich Gumpert, Günter Sommer, Cecil Taylor usw. usf.
In Müllers Texten erfährt man viel über die Geschichte der FMP und der Menschen, die diese einmalige Kooperative (das versuchte man in den 1970ern einige Jahre lang zu sein) vorangetrieben haben. Man bekommt Verbindungen und Kontexte vermittelt, die man so nicht erwartet hat – zum Beispiel wie das Festival Total Music Meeting mit der Tonträgerproduktion und dem Workshop Freie Musik zusammenhängt, wie sich diese drei Komponenten als FMP gegenseitig bedingten und voran brachten. Man erfährt aber auch viel über die teils verschlungenen Wege der FMP hinein in die Szene des DDR-Jazz. Und weil die FMP eben auch ein „Männerhaufen“ war, ist das Kapitel „FMP und Frauen“ mehr als nur lesenswert. Wie schon gesagt: Müllers 400-Seiten-Wälzer ist mit seinen vielen Fotos und Originaldokumenten auch ein aufregend gestaltetes Kunstbuch.
Dennoch fragt man sich, warum ein 30 Jahre altes Interview mit Gebers seinen Weg in das Buch gefunden hat, obwohl (oder gerade weil?) viele seiner O-Töne in den Texten weitaus aufschluss- und erkenntnisreicher sind. Etwas irritiert ist man, wenn man nur einen Satz über die Beziehung der FMP bzw. Brötzmanns zur Gründung des moers festivals 1972 liest. Stutzig wird man, wenn man auf das vierte FMP-Jahrzehnt zwischen 2000 und 2009 nur mit dem kurzen Hinweis auf einen Aufsatz vertröstet wird, der zwar von Wolf Kampmann kenntnisreich geschrieben wurde, aber ausschließlich Gebers‘ Perspektive wiedergibt und nicht die seiner damaligen „Kontrahentin“ Helma Schleif. Für all das hätte man sich tatsächlich eine tiefere „investigative“ Recherche des Autors gewünscht. Müllers „FMP: The Living Music“ ist kürzlich in Deutsch und Englisch im Wolke Verlag erschienen und kostet 39 Euro. Text Martin Laurentius
Weiterführende Links
„FMP: The Living Music“