Buch: Mit Klassik spielt man nicht!
Vor gut 30 Jahren hat der Autor Musikwissenschaft in Bonn studiert. Irgendwann gab es im Kammermusiksaal vom Beethovenhaus ein Konzert mit Keith Jarrett – allerdings nicht mit dem Jazzpianisten, sondern mit dem Klaviervirtuosen von Werken klassischer und zeitgenössischer Komponisten. Auf dem Programm standen im ersten Teil Klaviersonanten von Mozart, im zweiten Teil dann die 24 Präludien und Fugen von Dimitri Schostakowitsch. Eine Kommilitonin war für diesen Abend als Notenblattwenderin engagiert. Weil sie wusste, dass über Kadenzen zu Mozarts Zeiten auch improvisiert wurde und Jarrett ein renommierter Jazzpianist ist, fragte sie, ob er ihr ein Zeichen geben könne, wenn er die Kadenzen zu Ende gespielt habe und sie die Seite wenden könne. Sie bekam von Jarrett schroff zur Antwort, dass er nicht improvisieren werde. Erst einige Jahre später erfuhr der Autor den Grund: Aus Respekt vor diesem klassischen Komponisten wollte Jarrett das Werk Mozarts nicht verändern.
Eine Anekdote, sicherlich. Dennoch passt diese gut zu dem Büchlein „Mit Klassik spielt man nicht! Zur Improvisation im klassischen Konzert“, das die Berliner Violinistin und Bratscherin Maria Reich kürzlich im Eigenverlag herausgebracht hat. Eigentlich ist das ihre Bachelor-Arbeit, die sie vor fast zehn Jahren zum Abschluss ihres Studiums am Department Communication & Cultural Management der Zeppelin Universität in Friedrichshafen abgelegt hat. Zudem war sie Jungstudentin (Klassik) und hat ein Jazzstudium absolviert. Reich kennt sich als Geigerin also aus an der Schnittstelle von Improvisation und Komposition. So spielt sie im Trickster Orchestra ebenso wie sie bereits mit dem Stegreif Orchester gearbeitet hat, sie steht ihrem eigenen Streichquartett vor und ist Mitglied im kollektiven Trio Reich / Pringle / Baumgärtner. Zusammen mit der umfangreichen Literaturliste für ihr Buch zeigt es ihre Expertise, mit der sie dieses recht komplexe Thema Improvisation in der klassischen Musik aufzudröseln versteht.
Natürlich liest man die wissenschaftliche Herkunft des Büchleins. Doch ist es auch mit Esprit und Verve geschrieben, dass es oftmals eine Freude ist, tief in die Thesen, Argumente und Gedanken Reichs einzutauchen. Wenn Reich etwa gleich zu Anfang über die „Abwesenheit der Improvisation im klassischen Konzert in der Gegenwart“ festhält: „Die Autorität des Notentextes, Einspielungen bekannter Interpreten sowie die Erwartung höchster Perfektion lassen den Spielraum für eine individuelle Auseinandersetzung mit der Musik sehr klein werden.“ Oder wenn sie das improvisatorische Moment in der Musik des Barock und der Klassik nachzeichnet und herausarbeitet, wie wichtig Improvisation während dieser Epochen gewesen ist – auch und gerade für die Komponisten dieser Zeit.
Spannend wird es, wenn Reich den Wechsel von der Klassik mit seinem noch höfischen Konzertleben in die Romantik mit seinem bürgerlichen Konzertbetrieb analysiert: Wie nach und nach die Improvisation aus der Kunstmusik Europas verschwindet, weil seit dem Biedermeier eine Kanonisierung und ein fixer Werkbegriff, einhergehend mit Interpretation und Werktreue sich Bahn brechen, durch die auch der bürgerlicher Konzertbetrieb stark kommerzialisiert wird.
Dann kommt Reich auf das 20. Jahrhundert zu sprechen und bezieht in ihrer Untersuchung den Jazz ebenso mit ein wie improvisatorische Tendenzen in der komponierten Neuen Musik und musikalischen Avantgarde: „Die beschriebenen Entwicklungen innerhalb der Neuen Musik relativierten die Position des Komponisten, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts an Überhöhung gewonnen hatte. Meines Erachtens könnte man diese neue Tendenz daher als postgeniales Komponieren bezeichnen. Allerdings muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass diese Entwicklungen innerhalb relativ kleiner Zirkel von Kennern stattfanden und bis heute keinen nennenswerten Eingang in das etablierte klassische Konzert gefunden haben.“ In dem Zusammenhang erwähnt sie den Wiener Klaviervirtuosen Friedrich Gulda, verweist auf ein kurioses Experiment des Pianisten Jean-Jaques Hauser 1968 in Zürich und liefert zum Schluss noch einen Ausblick auf die Formen, Möglichkeiten und Fragen von Authentizität der Improvisation in der Klassik und Neuen Musik von Heute.
Interessanterweise verweist Reich zwar auf Aleatorik, John Cage und weitere Komponisten der zeitgenössischen Musik. Die auch und gerade in der Frage der gelenkten Improvisation bedeutende Gruppe Nuovo Consonanza um den italienischen Komponisten Franco Evangelisti in den 1960er-Jahren bleibt aber ebenso unerwähnt wie das Entstehen des Urheberrechts vor rund 200 Jahren und die Gründungen der großen Verwertungsgesellschaften wie die deutsche GEMA oder die französische SACEM am Ende des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls ist dieses Thema noch längst nicht zu Ende geschrieben. „Mit Klassik spielt man nicht! Zur Improvisation im klassischen Konzert“ kann online direkt bei Reich bestellt werden.
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Maria I. J. Reich