RIP: Charles Gayle
Irgendwann Ende der 1990er-Jahre hat Charles Gayle damit angefangen, sich bei seinen Konzerten mit einer roten Clownsnase und weißgeschminktem Gesicht in die Kunstfigur „Streets the Clown“ zu verwandeln. Erst als diese Alias-Persönlichkeit konnte er nämlich über die Erfahrungen und Erlebnisse sprechen, die er während der mehr als 15 Jahre als Obdachloser in New York gemacht hat; über die vielen Misshandlungen, Ungerechtigkeiten und den allgegenwärtigen Rassismus, dem er als Afroamerikaner auch ausgesetzt war. Gleichzeitig genoss er in diesen Jahren die schier unendliche Freiheit, stundenlang auf den Straßen und in den U-Bahn-Stationen New Yorks Saxofon spielen zu können. „Ich habe gespielt, um nicht betteln zu müssen“, erinnert sich Gayle. „Dort draußen, auf der Straße zu spielen, ist etwas ganz anderes als in irgendeinem Club: Das ist eine andere Welt. Ich konnte vom Times Square zur Wall Street laufen und ununterbrochen Saxofon spielen.“
Auf den Straßen New Yorks wurde Gayle Mitte der 1980er unter anderem vom deutschen Bassisten Peter Kowald entdeckt. Wie die beiden damals klangen, zeigt die berührende Doku „Rising Tones Cross“ über die Jazzavantgarde New Yorks dieser Jahre der deutschen Filmemacherin Ebba Jahn, in der die zwei Musiker mit ihrem aufregend spirituellen und hochemotionalen Free Jazz etwa im Quartett mit der Pianistin Marilyn Crispell und dem Schlagzeuger Rashied Ali zu hören sind. In dieser Doku erzählt Gayle auch davon, wie er als Obdachloser in leerstehenden Abbruchhäusern dem Erfrierungstod nahe die oftmals eiskalten Winternächte in New York überlebt hatte. Es waren solche Erlebnisse, die Gayle 15 Jahre später dazu brachten, als „Streets the Clown“ das aussprechen zu können, was er sich als schwarzer Amerikaner nicht zu sagen traute: „Streets ist meine Befreiung von Charles. Als Streets werde ich auf der Bühne ein anderer Mensch.“
Viele der Platten, die ab Ende der 1980er-Jahre auf verschiedenen Labels wie Black Saint, FMP oder Knitting Factory Records von Gayle veröffentlicht worden sind, zeigen einen Alt- und Tenorsaxofonisten, der aller Geräuschhaftigkeit und Lautstärke seiner Musik zum Trotz das Melodische geradezu zelebriert hatte. Oftmals waren es seine überblasenen Sounds und Spalttöne, die zum Impuls wurden für endlose, melodisch eigenwillig geknüpfte Tonketten. Und Gayles Jazz-Avantgarde verleugnete nicht ihre tiefe Verwurzelung in den Gospel-Songs der afroamerikanischen Kirche.
Mit dem im Kollektiv mit William Parker (Bass) und Ali (Drums) improvisierten „Touchin‘ On Trane“ setzte er John Coltrane ein beindruckendes Denkmal, als Sideman spielte er unter anderem mit Cecil Taylor und Sunny Murray, 1996 erschien dann „Everything“, auf dem die Spoken-Word-Attacken eines Henry Rollins durch Gayle und Ali eigentümlich grundiert wurden. Ab 2000 war er regelmäßig mit Jazzstandards auf dem Piano zu hören – um den vielen Kritiker/-innen zu widersprechen, die behaupteten, dass Free-Jazz-Musiker/-innen keinen Bebop spielen könnten. Am 7. September ist Charles Gayle im Alter von 84 Jahren gestorben.