Defne Şahin
Die Lust am Reisen
Jazz thing Next Generation Vol. 40
Sie pendelt für ihr neues Projekt zwischen Berlin und Istanbul; sie komponiert moderne Songs, die von jazzigen Elementen und türkischer Musik zugleich geprägt sind. Die sprachgewaltige Poesie des großen türkischen Dichters Nâzim Hikmet hat Defne Şahin seit ihrer Kindheit beeindruckt und begleitet. Nun stellt die junge Berlinerin türkischer Herkunft ihr erstes Album vor: eine Hommage an Hikmet, die zu Recht in unsere Reihe gehört.
„Leben wie ein Baum, einzeln und frei und brüderlich wie ein Wald. Das ist unsere Sehnsucht.“ Einen großen Teil seines Lebens hat Nâzim Hikmet (1902–1963) im Gefängins verbracht, einen anderen im Exil in Moskau. Der wohl bedeutendste türkische Vertreter der Literatur der Moderne hat seinen Freiheitsdrang, seine Liebe zur Natur nicht ausleben können. Als Kommunist wurde er verfolgt, als Dichter schätzen ihn seine Landsleute hingegen über alles und fast ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod hat ihn sein Heimatland wieder eingebürgert. In Deutschland sind seine Gedichte inzwischen in guten Übersetzungen zu haben, doch er hat längst nicht den Bekanntheitsgrad erreicht, der ihm zusteht. Defne Şahin hofft, mit ihrer Musik ein wenig dazu beitragen zu können, Hikmets Poesie zu verbreiten.
„Er war der erste türkische Dichter, dessen Texte mir begegneten. Ich war noch klein, als ich sein ‚Lasst uns die Erde den Kindern übergeben‘ hörte, und es beeindruckte mich sehr. Ich las mehr und mehr von ihm. Schließlich habe ich eine Verbindung zu ihm gefunden: Dieser Freiheitsgedanke, die Sehnsucht nach neuen Orten – das habe ich mit ihm gemeinsam.“ Der Lebenslauf der jungen Komponistin und Sängerin spiegelt das wider.
Defne Şahin bezeichnet sich als Berlinerin türkischer Herkunft. „Berlin ist meine Heimat. Ich fühle mich dort zuhause, aber ich kann nicht sagen, dass ich Deutsche bin. Ich habe die deutsche und die türkische Staatsangehörigkeit, zwei Muttersprachen und einen griechischen Vornamen. Meine türkischen Eltern sind jetzt 30 Jahre in Berlin. Momentan lebe ich für mein neues Projekt in Berlin und Istanbul; da merke ich auch, dass ich keine richtige Türkin bin. Es ist ein Leben zwischen den Kulturen, wenn man so will – aber für mich ist es klar definiert.“
Seit ihrer Kindheit macht Defne Musik, mit fünf begann ihr Klavierunterricht, „eher klassisch“. Die Reiselust verschlug sie mit 16 nach Philadelphia, wo sie in der Big Band ihrer High School sang. „Da habe ich zum ersten Mal Jazz gesungen und dort ist auch der Wunsch entstanden, das professionell zu machen, Sängerin zu werden.“ David Friedman, die katalanische Sängerin Carme Canela oder Judy Niemack zählten zu den Lehrern Defne Şahins. Am Jazz-Institut Berlin hat sie gelernt, fast ein Jahr lang hat sie in Barcelona gelebt und studiert, sie ist allein nach Brasilien gereist und hat sich dort für ihre musikalischen Ideen Inspirationen geholt. In Südafrika hat sie mit einem Chor gearbeitet. Defne schwärmt von den Orten, an denen sie bisher gelebt hat. Sie ist auch mit dem Landesjugendjazzorchester herumgekommen. „Und jetzt komme ich mit meiner Band rum. Durch die Musik komme ich viel herum“, freut sich die 27-Jährige.
Mit dem Albumprojekt „Yaşamak“ (Double Moon/Challenge) begann Defne vor ein paar Jahren. Sie schrieb erste Songs zu Hikmets Gedichten, machte Demo-Aufnahmen. Im Rahmen ihres Erasmus-Semesters in Barcelona entstanden die meisten ihrer Kompositionen. „Dann bin ich zurück nach Berlin, habe in Berlin mit meiner Band ein paar Konzerte gespielt und vor einem Jahr dann das Album aufgenommen.“ Mit Matti Klein an Klavier und Rhodes, der unter anderem bei der Funk-Formation Mo‘ Blow spielt, dem aus Israel stammenden Bassisten Ofer Wetzler und der Schlagzeugerin Lucia Martínez entstand „Yaşamak“.
Die einfache Sprache Hikmets, seine starken Metaphern, die ohne Reime auskommen und vom klangvollen Rhythmus der türkischen Sprache getragen werden, setzt Defne Şahin um in selbstbewusste Töne, die mit Stilmitteln von Fusion bis Balladeskem arbeiten, mit mediterranen und bluesigen Elementen spielen, brasilianische Leichtigkeit mit türkischen Ornamenten kreuzen.
Ihre Melodien und Grooves hat sie bei manchen Songs zum Teil bis ins feinste Detail ausgearbeitet; die damaligen Bandmitglieder haben ihren improvisatorischen Anteil. „Natürlich hat da eine starke Interaktion stattgefunden“, sagt Frau Şahin. Zugleich ist deutlich zu hören, wie nahe die Komponistin den Wortbildern des Dichters in ihrer Musik ist; und aus gutem Grund hat sie dafür gesorgt, dass die Lyrik Hikmets inklusive eines Gedichts aus der Feder Ülkü Tamers – sowohl im türkischen Original als auch englischer Übersetzung – im Textheft zu „Yaşamak“ abgedruckt ist. Besonders stolz ist Defne darauf, eine Original-Rezitation Hikmets auf ihr Album nehmen zu dürfen. „Bir Yolculuk Üstüne“, zu Deutsch „Über eine Reise“, handelt von dem, was Defne Şahin neben der Musik wohl am liebsten tut.