Lisbeth Quartett – Grow
Selbstbewusstsein oder Selbstüberschätzung? Gerade die jungen Szenestürmer versuchen momentan offenbar alles, um sich Gehör zu verschaffen. Im Langzeitgedächtnis haften bleiben allerdings andere. Charlotte Greve zum Beispiel. Die laufende Nummer 30 serviert zum kleinen Jubiläum der „Jazz thing Next Generation“-Reihe eine ganz andere Variante der Innovation. Die Saxofonistin sucht nach Form, Ästhetik und der Melodie. Klingt einfach, ist aber verdammt schwer.
Endlich mal jemand, der nicht von dem ziemlich zeitgeistigen Drang beseelt ist, das Rad neu zu erfinden, die Buchstaben des Wortes „Jazz“ durcheinanderzuwürfeln, oder glaubt, ihn plakativ für tot erklären zu müssen. Jemand, der sein Saxofon nicht zwanghaft wie eine mongolische Hirtenflöte klingen lassen oder der mit einem Funksignal aus einer fernen Galaxie verwechselt werden will. Charlotte Greve spielt einfach.
„Mir liegt es fern, etwas zu erschaffen, das den Stempel ‚innovativ‘ trägt. Dafür bin ich nicht der Typ“, stellt die 21-Jährige unmissverständlich klar. „Wenn in meinem Kopf etwas entsteht, dann checke ich nicht automatisch ab, ob es so etwas Ähnliches schon einmal gegeben hat. Für mich ist es neu, und darauf kommt es an.“
Die aktuelle JTNG-Hoffnungsträgerin reüssiert auf ihrer CD „Grow“ (Double Moon/SunnyMoon) ohne jeglichen inneren und äußeren Zwang. Sie will nur das Einfache. Aber das ist mitunter schon schwierig genug.
„Was mich an vielen jüngeren Bands stört, ist, dass es unbedingt kompliziert sein muss, weil es sonst offenbar weniger wert zu sein scheint. Man kann das simpelste Stück schreiben, von mir aus nur mit zwei Akkorden. Aber es muss eine klar erkennbare Linie besitzen.“
Ein Satz, der im polystilistischen Getöse der Postmoderne leicht mit Einfalt verwechselt werden könnte. „Ich suche die Melodie“, sagt die Greve völlig unvermittelt, und aus ihrem Mund klingt das wie ein verloren gegangenes Geheimrezept. Vielleicht sollte sie noch ergänzen: die Wahrheit. Wobei jeder, der sich heute dergestalt äußert, rasch in die Nähe des Banalen gerückt wird. Dabei schürft die Abenteurerin mit ihrem Saxofon tatsächlich nach der Essenz der Musik. Sie füllt ihr Werk mit Inhalten und begnügt sich nicht mit der Präsentation von Verpackungen. Bescheidenheit, aber mit Ausrufezeichen.
Auf unaufgeregte Weise vermeidet es Charlotte, anders zu sein. Und gerade deshalb ist sie es. Ohne mit ihrer zweifellos vorhandenen, höchst erstaunlichen Virtuosität zu kokettieren, ohne sich zu zirzensisch zu inszenieren, ohne ihre Kumpane als Bandleaderin gnadenlos an die Wand zu spielen, setzt sie Akzente. In der Ausformung ihrer Songs, einer dichten Struktur, deren Verästelung gerade auf dem glatten Untergrund des Straight-Ahead-Jazz enorme Mühe bereitet, fein ziselierend im Ton und in der Phrasierung. Wenn die Vorurteile nicht wieder so tief wie Zaunpfähle fliegen würden, wäre man geneigt, ihr Spiel mit dem Attribut „weiblich“ zu versehen.
„Das habe ich schon öfter gehört, auch von meinem Saxofonlehrer Peter Weniger an der Universität der Künste in Berlin“, wundert sich Charlotte Greve. „Früher kam ich schon ins Grübeln, weil für mich da immer so ein komischer Unterton mitschwang: ‚Aha, ’ne Frau!‘ Aber mittlerweile habe ich kein Problem mehr damit.“
Denn die Saxofonistin weiß längst, dass eine Menge Männer sie insgeheim um ihren lyrischen, emotionalen Ton beneiden. Konkret lässt sich diese zauberhafte Magie während der finalen Ballade „Johnsburg, Illinois“ aus der Feder von Tom Waits am eigenen Leib nachvollziehen: Gänsehaut pur und ein durch und durch authentisches, warmes Feeling.
Dies kennt Charlotte Greve schon von Kindesbeinen an. In der Beschaulichkeit der Lüneburger Heide reifte das Talent acht Jahre lang behutsam durch eine klassische Querflötenausbildung, bevor es 2003 das Saxofon und den Jazz für sich entdeckte. Während andere Töchter aus gutem Hause normalerweise anständige Berufswege einschlagen (müssen), unterstützten Charlottes Eltern nach dem Abitur in Lüneburg 2007 ihren Wunsch, zu Studienzwecken nach New York zu reisen und sich Anleihen bei modernen Storytellern wie Loren Stillman, Dick Oatts und David Binney zu holen.
Schon 2004 und 2006 hatte die junge Dame in Niedersachsen jeweils den Wettbewerb „Jugend jazzt“ in der Solowertung gewonnen, mit ihrem damaligen Partner Dierk Peters gelang dies ein Jahr später auch auf Bundesebene. Dazwischen lagen noch vier wertvolle Jahre im Landesjugendjazzorchester Niedersachsen, „die mich ganz entscheidend geprägt haben“. Der Schritt nach Berlin, wo Greve mittlerweile als Mitglied der Big Band Jazzkollektiv, des Malte Schiller 11tets und des Avantgarde-Songwritertrios Aloosha zum quirligen Teil der Hauptstadtszene gehört, war da nur logisch.
„Ich habe es nie bereut: Berlin, meine Wohnung in Schöneberg, das Saxofon, alle meine Entscheidungen. Im Jazz fühle ich mich viel freier als in der statischen Klassik. Das passt einfach zu mir.“
Maßgeschneidert eben, wie ihr eigenes Lisbeth Quartett, für das sie in den letzten Dezembertagen des Jahres 2008 neben ihren Kommilitonen Manuel Schmiedel (Pianist sowie Komponist einiger Titel) und Martin Krümmling (Drums) mit Marc Muellbauer (Bass) sogar einen arrivierten Tieftöner der nationalen Szene rekrutieren konnte. „Marc ist Dozent an der Hochschule, und ich habe ihn einfach gefragt, ob er Lust hätte, bei uns mitzumachen. Nach der ersten Probe war er dabei.“ Bleibt nur noch die Frage nach dieser ominösen Lisbeth, die der Combo ihren Vornamen leiht. Charlotte Greve lacht:
„Das bin auch ich. Mein zweiter Name ist Elisabeth. Die Kurzform davon wurde bei uns zu Hause nur verwendet, wenn ich etwas ausgefressen hatte. Dann riefen meine Eltern ‚Lisbeth!‘, und das klang sehr, sehr streng. Von meinem Bruder stammt die Idee, die Band so zu benennen. Ist auch frischer und nicht so antiquiert wie ‚Charlotte Greve Quartett‘.“
Lisbeth alias Charlotte möchte wachsen, wie der Titel ihres bemerkenswerten Debüts ankündigt. Ein spannender und energiegeladener Prozess mit sanften Bewegungen, der Reduzierung auf das Nötigste und Wichtigste, auf eine Ästhetik der starken Atmosphären und intensiven Emotionen. Nach oben gibt es keine Grenzen.