David Virelles
Gnosis
(ECM/Universal)
Aus europäischer und heutiger Perspektive wirken die Musikkonzepte des AACM exotistisch. Es waren Experimente, die damit spielten, afroamerikanische Archaik auf die Ebene der in der internationalen Wahrnehmung geschätzten Avantgarde zu heben, ein nicht zuletzt aus der Bürgerrechtsbewegung stammender Impuls des Widerstandes, die abendländisch weiße Hegemonie von Geschmack und Deutung zu relativieren. David Virelles kennt sie gut, die noch übrigen alten Recken von damals. Er hat bei Muhal Richard Abrams und Henry Threadgill studiert und die Ideen, die Wut, aber auch den Humor der Väter aus erster Hand kennengelernt. Man hört es, aber nicht als Vorbild, sondern als eine der Grundlagen seiner Musik, zu der sich die bis in die Nuancen erforschte europäische Kunstmusik, der postmoderne Hardbop von Freunden und Partnern bei anderen Gelegenheiten wie Chris Potter oder Ravi Coltrane, aber auch die ambivalenten Klangkultur seiner Heimat Kuba gesellt, das Ganze abgebunden vom Kammerjazz der Gegenwart. „Gnosis“ ist daher ein bemerkenswertes Album. Es verbindet Welten, stellt die originären Verse des singenden, trommelnden Poeten Román Diaz neben Ensemblepassagen mit modern orchestraler Wirkung. Er kombiniert afrokubanischen Flow mit reflexiver Pianistik, stellt Leichtigkeit und Abstraktion, Fülle und Introvertiertheit, Botschaft und Offenheit in 18, manchmal nur momenthaft kurzen Kapiteln nebeneinander. Es ist einerseits eine Suite, auf der anderen Seite eine Ideensammlung, weitab des normativen Anspruchs, den die Väter an den Tag legten, legen mussten. Und deshalb geht „Gnosis“ einen Schritt weiter in Richtung Verselbstständigung klangkultureller Identitäten. Die Musik kann in gleicher Weise schön und rätselhaft klingen, kann in Kuba und New York wurzeln, kann Jazz oder ganz etwas anderes sein. Die Alten müssen stolz auf ihren Schüler sein, der ihr Erbe in die Zukunft trägt.