Bleibt gesund und positiv!
[14.4.2020]
Es ist Mittwoch, der 11. März 2020, kurz nach 21 Uhr. Meine Frau und ich sind mit zwei Freunden in einer Bar in DUMBO („Down Under The Manhattan Bridge Overpass“), Brooklyn. Gerade hat Donald Trump seine Rede zur Nation beendet und verkündet, die Grenzen von und nach Europa zu schließen. Langsam beginnt die Realität durchzusickern – wie immer bei diesem Herrn sind genaue Informationen aber unklar. Fest steht, an der zweiwöchige Europatournee mit meinem Quintett, die eine Woche später starten sollte, ist nicht mehr zu denken.
Bis dahin gab es noch eine Resthoffnung, dass doch alles nicht so schlimm werden würde. Am Nachmittag habe ich noch mit unserem Gitarristen Charles Altura für die Tour geprobt. Er kam gerade von einer Konzertreise mit Tom Harrell zurück und meinte, nur in Italien sei das Konzert ausgefallen, ansonsten hätte alles noch gut funktioniert. Wir waren optimistisch.
Mittlerweile steht mein Smartphone, das sonst nur für Google Maps, Kurznachrichten oder Social Media genutzt wird, nicht mehr still. Es sind Freunde und Kollegen, die sich erkundigen, was denn jetzt genau die Lage ist. Darf man noch ausreisen? Käme man wieder zurück? Die Informationen sind unklar. Schlagzeuger Jochen Rueckert wäre ab Freitag für fünf Wochen auf Europa-Tour und hätte CD-Aufnahmen mit verschiedenen Bands gehabt. Sollte man noch schnell versuchen, aus New York rauszukommen, bisher wurden ja keine Konzerte abgesagt? Es geht um mehrere tausend Euro. Aber die Familie ist hier: Kommt man wieder zurück?
Ähnlich geht es auch dem Pianisten Manuel Schmiedel und dem Bassisten Matt Penman. Kollege Matthias Pichler plant gerade seinen Umzug nach Berlin, mit Frau und Kind. Auch er weiß nicht, wie und was jetzt passiert. Chaos. Anrufe von meiner Schule, an der ich unterrichte: Bleibe ich hier oder „fliehe“ ich nach Europa? Dann bräuchten sie Ersatz. So geht es circa zwei Stunden lang. Dann erst mal ein Bier. Bei einem bleibt es nicht.
Am nächsten Morgen, Katerstimmung. Mittlerweile haben sich viele Veranstalter gemeldet, Konzerte werden reihenweise abgesagt. Ich muss meine Band informieren, die Tour kann nicht stattfinden. Jeder von ihnen verliert auf einen Schlag mehr als 3.000 Euro. Argh …
Für die nächste Woche ist jeder Morgen aufs Neue ein Kampf, sich aus dem Bett zu bewegen. Stunden- und tagelang hänge ich in den Warteschleifen der Fluglinien, um gebuchte Flüge zu stornieren bzw. Ersatz zu beantragen. Manche Fluglinien versprechen Rückerstattung, andere, wie KLM, weigern sich. So oder so, einen Monat später ist noch kein Geld rückerstattet worden. Erfolgreicher sind die Stornierungen von Hotels, Mietwagen und Zügen. Dunkle Zeiten.
Ans Saxofonspielen ist in dieser Woche nicht zu denken. Noch sind hier in der Stadt einige Clubs offen, das Smalls und Birdland zum Beispiel. Am gleichen Sonntag ruft der Besitzer der 55 Bar (einer meiner Lieblingsclubs im West Village) an, ob ich diese Woche noch auftreten wollte. Warum nicht? Am nächsten Tag werden dann alle Clubs in New York per Gesetz auf unbestimmte Zeit geschlossen … Mieten müssen natürlich weiter bezahlt werden – in New York sind die nicht unerheblich.
Eine Woche später kann ich mein eigenes Jammern nicht mehr hören. Ich will einen positiven Ansatz finden – wie kann man aber diese Zeit positiv gestalten? Tagespläne und Ideen werden aufgeschrieben. Vor allem Joggen im nahen Prospect Park hilft. Es geht aufwärts. Derweil zieht sich die Corona-Schlinge um New York immer enger. Hamsterkäufe beginnen, wir basteln unsere eigenen Masken. Die Sirenen schrillen inzwischen Tag und Nacht, auch persönliche Schicksale kommen näher. Man kennt und spricht mit Kolleg*innen, die mit an Covid-19 verstorbenen Musikern wie Wallace Rooney und Mike Longo gespielt haben. Ein bekannter Posaunist liegt auf der Intensivstation, eine Konzertproduzentin sitzt in Costa Rica fest. Und bei allen Musiker*innen brechen die Konzerteinkünfte komplett weg.
Aber es gibt auch Positives: Billy Joel hat 25.000 US-Dollar an den Smalls Jazzclub und dessen neue Foundation für Musiker*innen gespendet. Auf der Clubseite sind ab jetzt sämtliche Konzerte seit 2007 zu sehen. Der Online-Unterricht klappt besser als gedacht. Künstler*innen engagieren sich in einer Stiftung, die schnell eine kleine Soforthilfe für Musiker*innen leistet – was die Trump-Regierung nicht hinbekommt. Viele Musikfans engagieren sich und kaufen CDs und Vinyl-LPs direkt beim Künstler. Hoffnungsschimmer.
Ich denke, vielen Menschen wird jetzt erst bewusst, wie wichtig Live-Konzerte, Ausstellungen und Kulturveranstaltungen generell sind. Wie oft ist man (auch ich) lieber zu Hause geblieben und hat etwa Netflix geschaut: zu anstrengend. Das wird in Zukunft hoffentlich seltener der Fall sein – diese Veranstaltungen sind keineswegs selbstverständlich. Wenn dieser Mist vorbei ist, werden wir in Massen in die Konzerte strömen und Kunst genießen. Und bis dahin sollten wir alles daran setzen, die Künstler*innen und Kulturinstitutionen am Leben zu erhalten.
Für mich selbst ist jetzt erst einmal „Sonny-Rollins-Zeit“. Auf der Höhe seiner Karriere hat der Saxofonist 1959 für ein Jahr eine Pause von öffentlichen Auftritten genommen, um sein Spiel weiterzuentwickeln und zu verändern. Genau das habe ich jetzt auch vor – und freue mich darauf.
Seid also bereit für neue Sounds in 2021! Bis dahin melde ich mich hier weiterhin aus Brooklyn, New York.
Bleibt gesund und positiv,
Euer Tobias