Rede & Gegenrede: Regionalität | Internationalität?
[10.6.2020]
Gegenrede
Ein Plädoyer für die Internationalisierung des Jazz
Jeder Musiker der Welt – mag er auch noch so global aufgestellt sein – ist letztlich ein lokaler Musiker. Ob er in New York oder Villingen-Schwenningen (nichts gegen Villingen-Schwenningen, es könnte ebenso gut Eberswalde, Doberlug-Kirchhain, Eschwege oder Gladbeck sein) zu Hause ist, spielt hinsichtlich seiner Verortung nur eine untergeordnete Rolle. Zumal Villingen-Schwenningen und New York gleichermaßen von den Beschränkungen des weltweiten Lockdowns betroffen sind. Sicher ist es richtig, dass die lokalen Szenen für den Augenblick gestärkt werden – und das trifft auf Villingen-Schwenningen unter Umständen sogar noch mehr zu als auf New York, denn auf dem Big Apple läuft im Moment überhaupt nichts. Aber können die regionalen und lokalen Jazz-Biotope hierzulande von diesem Umstand profitieren, und wäre das für „den“ Jazz (stellen wir ihn uns für einen Augenblick als homogene Erscheinung vor) überhaupt wünschenswert?
Diversifizierung des Jazz
Werfen wir einen kurzen Blick zurück. Von den allerersten Jahren an Plätzen wie New Orleans, Chicago und New York abgesehen, basierte der Jazz schon immer auf Austausch. Spätestens 1917 zogen Heerscharen von Jazzmusikern aus dem Süden der USA in die großen Städte des Nordens, wo sie bereits auf eine lebendige urbane Jazz-Infrastruktur stießen. In der Folge dieser ersten großen Jazzmigration entstanden zahlreiche Hybride und Idiome, die zur Diversifizierung dieser Musik beitrugen. Der Erste Weltkrieg brachte den Jazz nach Europa, ein knappes halbes Jahrhundert danach war er ein weltweites Phänomen.
Es ist richtig, dass sich auf allen Kontinenten lokale Szenen herausbildeten, die sich durch spezielle Ausprägungen voneinander unterschieden und zeitweise auch abgrenzten. Als Kulturform überlebte der Jazz indes, weil sich diese Communities über kurz oder lang doch austauschten und Jahrzehnte vor der Globalisierung der Märkte eine globale Sprache herausbildeten. Jazz, speziell in seiner instrumentalen Variante, wurde weltweit zelebriert und verstanden, ohne dass er eines Wörterbuchs bedurft hätte. Und genau in diesem Phänomen liegt seine Stärke.
Konzentration auf die nationalen Szenen
Schon vor Corona wurde es für amerikanische Musiker zusehends schwieriger, auf dem europäischen Kontinent Fuß zu fassen. Denn trotz sinkender Reisekosten konzentrierten sich Veranstalter immer mehr auf die – zugegeben immer stärker werdenden – nationalen Szenen. Viele Labels und Medien zogen mit. Diese Entwicklung führte dazu, dass hierzulande aus dem Mutterland des Jazz oft nur noch wahrgenommen wurde, was durch ein Label oder einen Vertrieb vertreten und somit sichtbar war. Das ist umso erstaunlicher, als das Internet den Austausch von Informationen aus erster Hand eigentlich erleichtern sollte. Im Jazz lässt sich aber das Gegenteil beobachten. Die Nationalisierung und Regionalisierung der europäischen Musiklandschaft hat also längst begonnen.
In Deutschland drängen mit jedem Jahr mehr Jazzmusiker auf die Szene. 18 Hochschulen entlassen zweimal jährlich ihre Absolventen auf die Jazzbretter zwischen Nordsee und Alpen. Ob auch die Zahl der Auftrittsmöglichkeiten entsprechend steigt, darf zumindest bezweifelt werden. All diese Musiker wollen von ihrer Kunst leben. Es ist daher nur allzu verständlich, dass man sich auf Musikerseite größere Spielanteile erhofft. Vieles von dem, was da an deutschen Jazzstandorten entsteht, ist auch überaus hörenswert. Aber Jazz ist eben nicht nur Musik, sondern für die entsprechende Klientel auch eine wirtschaftliche Angelegenheit. Das beweist schon allein die Existenz einer Branchen-Messe wie die jazzahead! (der man keinesfalls unterstellen kann, sie würde der Regionalisierung Vorschub leisten), aber auch die stärker werdenden Interessenvertretungen der Jazzmusiker wie die Deutsche Jazzunion oder regionale Verbände.
Die Spreu vom Weizen?
Um was geht es nun also bei der Präsentation des deutschen Jazz, national, regional und lokal? Um die Sicherung eines Wirtschaftsstandorts? Den Schutz des deutschen Jazz-Bestands gegen die Eindringlinge von draußen? Das wäre reiner Protektionismus. Oder geht es darum, den deutschen Jazz im internationalen Wettbewerb so breit wie möglich aufzustellen? Dem Hörer die Möglichkeit zum Vergleich zu geben, um die Spreu vom Weizen trennen zu können, und die Musiker mit dem Input zu versorgen, um über den regionalen Tellerrand hinauszublicken?
Drastischer gefragt: Geht es überhaupt um einen Jazz deutscher Provenienz, oder bezieht diese Musikform ihre Kraft nicht gerade aus dem Umstand, dass sich Musiker jedweder Herkunft, Sozialisation, Tradition und technischen Ausstattung miteinander in jeder nur denkbaren Konstellation treffen können, um diese weltumspannende Sprache weiter zu ausformulieren und zum Hörer zu tragen?
Das Rad zurückdrehen?
Die Rückkehr zu einer Regionalisierung des Jazz hieße, die Zeit anzuhalten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und den Jazz in seiner Vielfalt und Flexibilität zu beschneiden. Nur wenn sich die lokalen Jazzmusiker aus der ganzen Welt von Villingen-Schwenningen bis Greenwich Village hierzulande weiterhin eine gemeinsame Bühne teilen können, wird auch der deutsche Jazz sein Potential behalten, entfalten und gegen kommerziell einträglichere Musikformen verteidigen können.
Für einen kurzen Augenblick des Stillstands sind wir momentan auf die Regionalisierung des Jazz zurückgeworfen. Und wie alles Ein- und Innehalten der gesellschaftlichen Läufe ist das eine positive Zäsur. Aber mehr als eine Zäsur ist es eben nicht. Denn wenn die notwendigen Beschränkungen erst einmal aufgehoben sein werden, ist es gut möglich, dass das Jazzpublikum Streams und Regionalität ganz schnell hinter sich bringen will, um wieder an der gewohnten Weltläufigkeit des Jazz teilzuhaben. Jede Aktion bewirkt eine Reaktion. Jazz unterliegt beispielsweise nicht den Gesetzen der Volkstümlichen Musik. Je mehr die Regionalisierung des Jazz forciert wird, desto vehementer wird sich die Sehnsucht nach Internationalität manifestieren – im Jazz mehr als in vielen anderen Kulturformen.
Wie postulierte der unvergessliche Fred Anderson einst so treffend? „Jazz is contribution.“ Warum hören wir Jazz, wenn nicht deshalb, weil wir auf diesem Weg an etwas teilhaben können, dessen wir sonst nicht teilhaftig würden? In diesem Sinne ein Hoch auf die lokalen Jazzmusiker dieser Welt, denn jeder Einzelne von ihnen ist Teil der weltweiten Community von Jazzmusikern. Und so soll es bleiben.